Die Handlung, der Nihilismus und der Karton ODER nach dem Roman
„Und es stimmte, ich war mir dessen immer bewusst gewesen: Ich hatte kein Recht zu existieren. Ich war zufällig erschienen, ich existierte wie ein Stein, eine Pflanze, eine Mikrobe. Mein Leben wuchs aufs Geratewohl und in alle Richtungen. Es gab mir manchmal unbestimmte Signale; dann wieder fühlte ich nichts als ein Summen ohne Bedeutung.“ (Sartre,“Der Ekel”)
Voyeurismus ist das Gegenteil von Freiheit, denn der Voyeur zieht aus einem Vorgang, der ihm äußerlich ist, auf den er keinen Einfluss hat, seine Befriedigung. Zwanghaft. Wird er von den Handelnden entdeckt, endet das, was er beobachten wollte, abrupt. Insofern endet auch der Text, wenn er den voyeuristischen Leser entdeckt, er bricht nicht ab, weil der Leser die Lektüre abbricht, sondern er verschwindet gewissermaßen von selbst und feiert zuweilen in einer Nacherzählung der Handlung seine Wiederauferstehung als Tratsch oder Gerücht.
Der voyeuristische Leser muss also darauf hoffen, als Leser nicht entdeckt zu werden, um nicht unbefriedigt zu bleiben. Er nähert sich deshalb der Literatur als Käufer eines in Plastikfolie eingeschweißten Produktes, denn der Markt ist sein Versteck, hier ist er anonymer Besitzer eines Geldbeutels, austauschbar und eintauschbar wie das Geld darin.
Ich mag keine Voyeure, auch wenn das vielleicht nicht zeitgemäß ist; und mich selbst als Voyeur mag ich am allerwenigsten. Erst kommt die Einfühlung und dann kracht es. Der Strauch erweist sich als Tür, man findet sich kniend vor einem Schlüsselloch und späht ins Leben einer anderen, gar nicht so fremden Existenz.
Als Voyeur kann ich gar nicht anders, als zu lesen. Damit bin ich Teil einer Community, einer Leserschaft. Und wenn die Leser sich treffen, haben sie etwas zu tuscheln. Das bedeutet aber, dass es außerhalb ihrer Freiheit liegt, das Buch beiseite zu legen. Ein Effekt, der sich manchmal auch beim Rauchen oder Fernsehen einstellt: die Entmündigung des Konsumenten. Konsum als Sucht.
Marketingstrategen haben dieses Phänomen vor ein paar Jahren für ihr Produkt zu nutzen versucht, indem sie um ein Buch herum eine öffentlich diskutierende Gemeinschaft aufbauten. Der Leser, der zumindest einer begrenzten Öffentlichkeit bekannt sein sollte, wurde aufgefordert, in einem Blog über seine Leseeindrücke zu berichten, um dadurch Leser heranzuziehen, die bereit waren, das betreffende Buch zu kaufen. Jeder tritt also mit seinem mehr oder minder bekannten Namen ein und wird zur Facette eines Ensembles.
Es ist nicht in dem Maße gelungen, wie die Werbeabteilungen hofften. Vielleicht oder zum Glück ist manches Buch doch zu rau und zu lang und zu wenig zusammenhängend. Und vor allem tritt der Käufer zuweilen auch als Leser in Erscheinung. Es tut hier nichts zur Sache, welches Buch es war, denn wir wollen uns nicht am Tratsch beteiligen.
Oder wir betrachteten die Probleme schwindender sexueller Leistungsfähigkeit älterer Professoren an amerikanischen Unis. Das waren die sagenhaften Nuller Jahre. Ich stehe gebückt am Schlüsselloch und mich überkommt ein wohliges Grauen, bevor mich der Ekel übermannt. Ach, gebt Roth doch den Nobelpreis, dass er endlich Ruhe findet. Man könnte sich dann auch mal wieder die Zuckerman-Romane zu Gemüte führen und lernen, wie Prosa gehen könnte. Dieses Vage, Brüchige. Dieses erschütternde sich auf eine Realität beziehen, die die Realität sein könnte, aber doch nicht ist.
Roth steht natürlich hier nicht stellvertretend für die amerikanische oder gar Weltliteratur, aber er gehört zu deren erfolgreichsten Vertretern, nicht nur was die Anerkennung in der Fachpresse betrifft, sondern auch in Bezug auf die Verkaufszahlen. Nur kein Neid, sagte einmal ein Kollege, den ich im Zug traf. Warum eigentlich nicht? Neid ist eine zutiefst menschliche Regung. Wenn man sich in einem bürgerlichen Vermarktungssystem aufhält, ist er nicht zu vermeiden. Neid ist geradezu die Triebfeder unserer westlichen Kultur. Und zum Neid gehört auch, dass er sich verleugnet. Also entsteht auch dieser Text wie jeder andere unter den Bedingungen einer gebremsten Abscheu und den Bedingungen des Neides. Wer den Neid ablehnt, müsste im Grunde auch unsere ganze heutige Existenzweise verdammen. Es wäre jedoch zu anstrengend, dann noch zu existieren. Zum Neid unter Kunstproduzenten wäre jedoch weiterhin anzumerken, dass er auf einem strukturellen notwendigen Missverständnis beruht, das einem Zwang zur Vermarktung entspringt. Was für die Vögel gilt, nämlich dass Gott sie ernährt, obgleich sie nicht säen und ernten, gilt für den Künstler nicht. Kunst begründet an sich kein Konkurrenzverhältnis, aber am Markt, der alles austauschbar und vergleichbar macht, treten die Produkte in einen ähnlichen Wettstreit wie ihre Produzenten im institutionellen Stipendien- und Literaturpreiskampf.
Der neunmalkluge Hegel sagte, dass der Roman die Apotheose der bürgerlichen Gesellschaft sei. Er kannte den Film nicht. Vor allem nicht die Filme der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, kannte Paul Kemp nicht, sah nicht, wie Kemp den Götterboten Hermes spielte, dem es im Film oblag, Neid und Missgunst zwischen Göttern und Menschen auszugleichen. Die Götter und Griechen trugen zumindest auf der Leinwand dieselben süßen Herrenkleidchen und stellten spärlich behaarte Männerbeine zur Schau. Dies jedoch derart kokett, dass von einem selbstverständlichen Umgang mit derartiger Bekleidung keine Rede mehr sein kann. Es war ein unaufhörliches Hüpfen über die Leinwand. Ein putziger Umgang mit der Begierde, stets an der Grenze zur Pornografie. Eine Grenze, die man jedoch nie überschritt, um den sogenannten Volkskörper nicht zu schockieren.
Der Film setzte fort, was der Roman begann: eine Verbürgerlichung aller Zeiten, nicht nur der aktuellen, sondern gewissermaßen rückwirkend bis in die Antike. Leider muss ich an dieser Stelle thesenhaft bleiben, möchte aber auf den Ökonomen und Sozialtheoretiker Alfred Sohn-Rethel verweisen und seine Studien zu Warenform und Denkform und an den sehr erhellenden Essay von Eske Bockelmann: “Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens”. Es gibt Wissenschaftstexte, die lesen sich besser als jeder Roman.
In den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts machte sich in Deutschland eine Mode breit, die unter dem Namen „Neues Erzählen“ den verskrupelten Prosaschreibern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einen Platz in der Ecke zuwies: Habt euch nicht so. Ist doch alles ganz einfach. Wem die WG-Erfahrung fehlt, der zieht sich eben eine Staffel “Golden Girls” rein, die haben die erwachsenen Zweifel hinter sich und sind endlich wieder bei den Problemen der Jugend angelangt.
Die Sujets glichen sich an. Wie auch das Alter der handelnden Personen in den Romanen sich bei um die dreißig einpegelte. Zumindest trifft das auf jene Prosa zu, die das Bild in den Feuilletons prägte. Was natürlich andere Autoren nicht davon abhielt, im Untergrund zu verbittern. Denn es gab auch in den Zeiten des “Neuen Erzählens” Versuche, sich gegen die Konventionen zu stellen, aber man hatte damit aufgehört, Erfolg am geistigen Mehrwert zu messen.
Vielleicht ist aber eine verspätete Pubertät auch das Grundproblem unserer Gesellschaft, die doch entweder zum Infantilen neigt oder zu einer frühen Vergreisung. Vielleicht fallen Pubertät und Greisenalter inzwischen sogar zusammen - oder die Phase erwachsenen Erwachens ist so kurz, dass sie nicht ins Gewicht fällt; beides sind ja auch Zeiten, in denen man seine sexuellen Bedürfnisse hauptsächlich als Voyeur befriedigt. Und ich sage das nicht nur wegen der grässlichen kleinkindgroßen Puppen, die auf nächtlichen Shoppingkanälen angeboten werden. Jedes Mal, wenn ich zufällig hineinzappe, muss ich dort verweilen. Puppen mit Echthaar! Puppen mit Gesichtern kurz vor der Vermenschlichung. Horrorpuppen.
Dass ich dort verweilen muss, ist auch eine Form von Voyeurismus. Und es zeigt, dass es allein ums Dargestellte nicht gehen kann, sondern dass vielmehr die Art der Darstellung das Problem ist, dass die übergroße Lücke zwischen Inhalt und Form physische Abscheu auslöst. Ein Problem, das einmal überholt schien, kam auf diese Weise erneut zum Tragen. Wir hatten und haben ein Realismus Problem.
Kürzlich fand ich am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ein Heftchen von Werner Bräunig, jenem früh verstorbenen Chemnitzer Autoren mit einer für seine Zeit geradezu irrwitzigen Lebensgeschichte. Er war aus dem Osten in den Westen gegangen, zur See gefahren und wieder zurück in den Osten gegangen. Nein, er ist dort nicht gestrandet. Es war seine freie Entscheidung. Vielleicht verleitete ihn ja seine Chemnitzer Herkunft, sich mit der dort herrschenden Ideologie zu identifizieren. Das Heftchen heißt: „Prosa schreiben. Anmerkungen zum Realismus?“ Und der namensgebende Essay schien mir geradezu prädestiniert, um eine Debatte anzuschieben.
„Zuletzt will der Erzähler nichts, was andere nicht auch wollten. Welt „an sich“ verwandeln in Welt „für uns“. Nur will er dies auf seine Weise. Denn mit der Mitteilungssprache, mit den kürzenden und stereotype Chiffren und Formeln verhält es sich so: Sie verlieren an Wirklichkeit, was sie gewinnen an Verbindlichkeit oder Prägnanz. Sie verlieren an Sinnlichkeit.“
Soweit Bräuning. Ich gebe zu, in seiner hölzernen Bestimmtheit wirkt dieser Satz ein wenig fremd. Dass es da draußen eine Welt gibt, die nicht von uns abhängt, glauben wir gerade noch. Denn wir brauchen ja nur die Klinke zu drücken, die sich über dem Schlüsselloch befindet, und… Und?
Wir haben inzwischen gelernt, vorsichtiger zu formulieren, denn uns ist die gesellschaftspolitische Sicherheit abhandengekommen. Gottseidank! Aber wir witzeln herum ohne politischen Hintergrund und sind allen verständlich. Wir wirken, so scheint es, seriös. Nun ist der Untergrund etabliert und es gibt keinen Grund mehr zu klagen. Wir staunen nicht mehr. Stocken nicht mehr und die Epen ergießen sich über die Festplatten, kein Versmaß, kein Gesang kann sie binden. Fehler lassen sich ohne Spur eliminieren und cut and paste macht das Kopieren quasi zu einem Vorgang der Großhirnrinde.
Merkwürdig ist nur, dass die Prosazyklen sich an die Wirtschaftszyklen halten. Ohne eine Verschwörungstheorie konstruieren zu wollen (aber warum eigentlich nicht; sind Verlage doch Wirtschaftsunternehmen wie andere auch), scheint mir das ein bemerkenswertes Phänomen zu sein. Dass alles Warenform annimmt, wirkt sich letztlich auch auf die Prosa aus. Nur der Singsang religiöser Urschriften scheint dem etwas entgegenzusetzen. Aber auch von Bibel, Koran et. al. gibt es inzwischen Umgangsversionen in geläufiger Prosa.
Das erste Hoch des Neuen Erzählens fand während des Internethypes in den neunziger Jahren statt. Parallel zum frisch-fröhlichen Dahinplaudern in den Romanen und Kurzprosasammlungen entwickelte sich eine gigantische Spekulationsblase und aus bayrischen und schwäbischen Scheunen stöhnten die Bauersöhne auf, die gerade an der Börse ihre erste Million verdient hatten. Deutsche Romane verkauften sich prächtig und die Vorschüsse stiegen. Ich studierte damals am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und wurde von diesem Fieber ergriffen. Ich dachte über Aktien und Romanhandlungen nach.
Allerdings habe ich keinen Roman zustande gebracht, auch kein Aktienpaket machte mich reich. Vielmehr bastelte ich an einer Diplomarbeit, die gründlich schief gegangen ist. Die Vorstellung, mit Literatur mein Geld zu verdienen hatte, hatte dennoch Besitz von mir ergriffen. Und ich bin bis heute nicht vollständig davon exorziert.
Ich gebe zu, es ist zuweilen spannend, zu spannen. Aber die Handlung tritt dabei derart in den Vordergrund, dass man das Medium vergisst. Es gibt für mich kein quälenderes Gefühl als das, dem Zwang zu unterliegen, einer Handlung ausgesetzt zu sein. Ich werde also nicht nur zum Schein zum Spanner, sondern ich werde wirklich dazu. Das ist vielleicht das grundlegende Problem. Wie von meinen DDR-Deutschlehrern verlangt, verändert der voyeuristische Realismus die Realität, indem er den Leser verändert.
Meistens sind es Romane oder Kurzgeschichten, die mir das bescheren. Es sind die Fiktionen. Frühes Kino? Aber nein! Die Lokomotive, die von der Leinwand aus auf das Publikum zurast, ist genau das Gegenteil. Das ist filmische Prosa. Da habe ich das Schlüsselloch im Rücken. Und da wären wir also am springenden Punkt. Ich möchte hier kurz mal den Autor mit dem Erzähler identifizieren. Beide sollten im Raum stehen, den ihre Prosa eröffnet. Sie sollten nicht spannen, sie sollten agieren. Das gibt mir die Möglichkeit, das Buch, wenn es drauf ankommt, zur Seite zu legen.
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