es ist an der zeit, sich zu radikalisieren
Ich hatte mich langsam von der Weltpolitik zur Stadtpolitik (London) zur Lokalpolitik fortbewegt, bis ich schließlich bei der kleinsten Einheit ankam – bei mir selbst.
Und was ist überhaupt ohne einen Sinn für Humor möglich?
(Anna Mendelssohn)
Diese Selbstbeschreibung mit Frage stammt aus den Memoiren von Anna Mendelssohn und kann vermutlich auf die späten 1970er Jahre datiert werden.1 Anna Mendelssohn: 1972 angeklagt wegen angeblicher Beteiligung an Aktionen der linksterroristischen Gruppe Angry Brigade, wobei sie selbst auf nicht schuldig plädierte,2 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nach fünf Jahren freigelassen; später darum bemüht, sich nicht auf die Vergangenheit reduzieren zu lassen, unfassbar produktiv als Lyrikerin – zum Teil unter dem Pseudonym Grace Lake oder mit alternativen Schreibweisen ihres Namens; Autorin von Unveröffentlichtem wie auch kleiner Pamphlete, die im Eigendruck bzw. von verschiedenen (in der britischen Lyrik bis heute verbreiteten) Samisdat-/DIY/grassroots/Indie-Verlagen publiziert wurden.3 Wäre man kleinlich, könnte man die genannte Bewegung von der Weltpolitik zum Selbst als Rückzug in die Innerlichkeit auffassen. Doch da wäre ja noch der Humor: Tatsächlich liest sich die beschriebene Sequenz als Satire auf den x-beliebigen Lebenslauf eines Staatspolitikers, der sich stolz und zäh von der Lokalpolitik zur Stadtpolitik zur Weltpolitik hochgearbeitet hat. Diese Bewegung rückwärts zu vollziehen und es Fortschritt zu nennen („fortbewegt“/„progressed“), bedeutet eine Abgrenzung von einer bestimmten Art von Realpolitik. Zudem ist Mendelssohns Reihung nicht nur von ihrem Endpunkt aus zu lesen (dem Auffinden einer kleinsten Einheit), sondern in ihrer Form als Reihung, in der immer noch alle Elemente mitgedacht sind, ernst zu nehmen. Angesichts des Vorhergegangenen ist auch in der kleinsten Einheit, im Ich, die Weltpolitik enthalten, was in Mendelssohns Fall besonders augenscheinlich wird, weil ihr Selbst so stark über die Verurteilung vordefiniert ist, es also kaum wirklichen Schutz bieten kann. In ihrem Satz finden wir uns in einer zeitlichen Bewegung inbegriffen, in der die Vergangenheit nicht gelöscht werden kann – aber vielleicht demontiert, denn räumlich-optisch gesehen, handelt es sich um einen Illusionsabbau (weg mit der Fiktionsfassade „Weltpolitik“ in ihrem derzeitigen Zustand!); den allmählichen Rückbau eines Kinderklötzchenturms, um beim Grundstein nochmal anzufangen; eine makroskopische Vergrößerung in der Annäherung ans Kleine, ans Selbst. Konzentrieren wir uns auf die fundamentale Einheit, konzentrieren wir uns auch auf alles Weitere.
Lütfiye Güzels Lyrik fängt dort an, wo das Zitat von Anna Mendelssohn aufhört: bei der kleinsten Einheit, die dennoch die ganze Reihung, die Hinwendung zur Gesellschaft, als Möglichkeit in sich trägt. Neben dem Selbst bestehen hier verschiedene andere kleinste Einheiten, mit denen gearbeitet wird: „hole Klebstoff und kopiere Gedichte, schicke sie raus in kleine Wohnzimmer, wo sie auf Frühstückstischchen liegen und neben dem Bett. Sie sind wie Eindringlinge in der Welt von Menschen, denen ich noch nie begegnet bin.“ (nix meer, 43) Ein reales Baukastenspiel: ein agierendes Ich, Klebstoff, Gedichte, kleine Wohnzimmer, Frühstückstischchen, Bett – Teile, die sich zusammenfügen in eine ständig neu gemachte und neu in Verbindungen tretende „Welt von Menschen“, ein völlig anderer Ausdruck als der der „Weltpolitik“. Was ein einzelnes Gedicht in einer fremden Wohnung anrichten kann, ist nicht vorhersehbar! Daher: Betrachten wir die Einzelteile, Einheiten, Bauteile von Güzels Lyrik im Detail.
Produktionseinheiten: Die eingangs aufgestellte Verbindung zu Mendelssohn war neben der inhaltlichen Verbindung, das Selbst als einen Basispunkt zu setzen, insofern nicht willkürlich, als besonders Güzels Handzettelsammlung elle-rebelle (2017) offen auf die Form des politischen Pamphlets anspielt. Die Handzettel stecken in einer offenen, grau überklebten braunen Butterbrottüte, deren Rückseite schreibmaschinengetippt die Worte „es ist an der zeit / sich zu radikalisieren“ sowie ein Foto der Autorin zeigt. Letzteres, in schwarz-weiß gehalten und unscharf in den Hintergrund verschwindend, erinnert an die RAF-Fahndungsfotos der 70er Jahre. Allerdings zeigt es keine frontale Nahansicht, stattdessen befindet sich die Autorin – sofern ich es überhaupt richtig erkennen kann – in einer eher kauernden Position, als könnte sie jeden Augenblick aus dem Foto hervorspringen. Wie im Foto so auch im Titel findet sich der Verweis sowohl auf das einzelne Individuum („elle“) als auch auf die ikonografisch überhöhte, zudem mit französischem Glamour angehauchte Rebellin („rebelle“). In absurder Etymologie ist erneut die kleinste Einheit in einer größeren Einheit verschachtelt. Durch die gewählte Gesamtästhetik wird deutlich, dass Güzels kleinste Einheiten auch als Guerrillaeinheiten gedacht werden können: Guerillaeinheit Butterbrotpapier, Guerillaeinheit Selbst, usw.
Die Bemerkung, dass es sich bei elle-rebelle um eine lose Handzettelsammlung handelt, mag schon angedeutet haben, dass Güzel die Produktionsmaterialien immer wieder neu denkt, mal wie gezeigt, beim einzelnen Blatt Papier beginnt, mal beim Sticker (selfklebend, 2018), mal bei der Zeitung (SÜPER DEPRESSION, 2019). Überhaupt veröffentlicht sie – abgesehen von Veröffentlichungen in Magazinen – ihre Werke schon seit einigen Jahren nur noch im Eigenverlag (go-güzel-publishing), dessen Name unverschämt ehrlich (und gerade dadurch satirisch) Selbstmotivation betreibt. Zu ihren Veröffentlichungen gehören durchaus auch Bücher mit Buchrücken (zuletzt u.a. nix meer, 2018, dreh-buch, 2019), wobei allein die Tatsache, dass Bücher nicht als die einzige, scheinbar selbstverständliche Form gewählt sind, das ‚Buch‘ als Standard gegenwärtiger Lyrikveröffentlichung verfremdet. Das Buch ist bei ihr eine bewusste Setzung, –
Einheit Wort: – genauso wie jedes einzelne Wort, denn genau welches Wort man hört oder selbst wählt, ist so eindrücklich bzw. bedeutsam, dass man auf manche nur mit einer Gewaltfantasie reagieren kann: „sollte ich nochmals das Wort ‚kontraproduktiv‘ hören, werde ich die Axt rausholen“ (nix meer, S. 35), „Ich bin orientiert. Noch so ein Wort für die Axt“ (nix meer, 58). Wie wir alle aus unserer täglichen Erfahrung mit neoliberalem Jargon wissen, können gerade extrem triviale Wörter der Arbeits- und Freizeitwelt in der* Einzelnen* extremen Leidensdruck hervorrufen – die Grausamkeit der ausgemalten Reaktion spiegelt nur diejenige der genannten Wörter selbst wider. Noch deutlicher wird das beim Wort „heimat“. Im am offensivsten antifaschistischen Gedicht aus elle-rebelle wird, wie folgt, die Abschaffung von Heimat (Wort, Konzept, Realität) gefordert: „alle verjagen aus der heimat / & familien wegwerfen / gegen heimat / & gegen wurzeln“. Wieder ist Güzels Grausamkeit nur eine scheinbare, tatsächlich handelt es sich um ein äußerst menschenfreundliches Gedicht, das anschreibt gegen die Gewalt der Begriffe von „[d]iese[n] Nazis, nicht Neo, nur Nazis, immer wieder Nazis“, die „Polohemden“ tragen und „ihren Bachelor in Schweinerei“ machen (nix meer, 24). Passagen wie die eben genannten brechen aggressiv in die Gedichte ein, die ansonsten zum Teil assoziativ, reflektierend, anekdotenhaft vor sich hinfließen und dabei einen starken Sog entwickeln. Gerade im schnellen Durchlesen, im Seriellen, erweisen sie sich als komplexe künstliche Konstruktionen. Das Beispiel mit der Axt kann hierfür als Beispiel dienen – beim ersten Mal ist der Axtangriff auf ein Wort leicht zu überlesen, beim zweiten Mal blinkt es auf als verunsichernde politische Forderung wie auch lächerlich quixotischer Versuch, ein Wort quasi als physisches Objekt zu zerschlagen.
Einheit Selbst: Wenn es eine Eigenschaft gibt, die sich durch alle Bände zu ziehen scheint, dann ist es die, dass das stets sehr präsente Selbst von extremer Trauer, Morbidität durchzogen zu sein scheint. Einige Beispiele: „wenn ich meine / eigene mutter wäre / ich würde weinen / um dieses alte kind“ (elle-rebelle), „der wind / der baum / & / das sterben“ (elle-rebelle), „mein vater sagt: / satt muss man sterben“ (elle-rebelle), „drei runden geweint“ (elle-rebelle), „Der Magen ist hart, nicht wie Stein, wie Grabstein“ (nix meer, 19), „Die Mutter und der Vater nur Gespenster“ (nix meer, 33), „Aus der Welt gekippt“ (dreh-buch, 33), „Alle, die mich kannten, / sind gestorben“ (dreh-buch, 47).4 Weil die Sprache sich aber nie auf lyrisch überhöhte Ebenen bewegt, wird die beschriebene Trauer nicht zum Klischee elegischer Lyrik, sondern schreibt diese neu und kollektiviert sie. Güzel ruft die Bewegung des „TristOléismus“ aus, mit der sich „die Traurigen zu erkennen geben“ können (nix meer, 64) und wendet sich damit ab von einem rein vereinzelten Umgang mit Trauer. Eine Demonstration!
Wenn Güzels lyrische Sprecherin also vom Tod durchlebt ist, dann verbindet sie sich gerade in ihrer Weltmüdigkeit mit Anderen. Das geschieht nicht nur über den TristOléismus, sondern auch, indem sie sich mit den Toten solidarisiert, deren Beachtung sie zum ethischen Anspruch an die Lebenden macht: „ich kann auch niemanden mehr ernst nehmen, der die Hölle nicht kennt oder nicht mindestens einen Toten in echt gesehen hat.“ (nix meer, 33) Auch ihre immer wiederkehrenden Bezüge auf den Schlaf und sein Mobiliar können als Bezug auf den Tod gelesen werden, insbesondere da die Lyrikerin nicht vor expliziter Metaphorik zurückscheut: „das gesicht / eingegraben / in die matratze“ (elle-rebelle). Zugleich drückt das Schlafengehen etwas Weiches, der Härte der Karrierewelt Entgegenstehendes aus: „sie gehen in die politik / ich gehe schlafen“ (elle-rebelle). Erneut treffen wir auf eine Umkehrung der Laufbahn professioneller Politiker, nur, dass sich die Einzelne noch stärker zurückzuziehen scheint als bei Mendelssohn, sich ganz einfach mal hinlegt. Denken wir eine solche Haltung als die noch extremere Weiterführung von Mendelssohns Reihung, macht die skizzierte Passivität vollkommen Sinn als aktiver Widerstand gegen den Status Quo (und dennoch auch als Passivität, die nicht weggeredet werden soll, sondern genau als solche wahrzunehmen ist): Ich hatte mich langsam von der Weltpolitik zur Stadtpolitik zur Lokalpolitik zum Selbst zum Schlaf fortbewegt, und ultimativ: Ich hatte mich langsam von der Weltpolitik zur Stadtpolitik zur Lokalpolitik zum Selbst zum Schlaf zum Tod fortbewegt. Auch der Tod ist stets Teil einer Reihung, folgt unabdingbar auf das Leben und dessen Umstände, ist damit gesellschaftlich provoziert: Jede*r einzelne Tote ist eine Guerillaeinheit, ein forensisches Zeugnis dessen, was im Leben passiert ist. Im Tod fängt der letzte Widerstand an: „Widerstand. / Widerstand. / Wieder. / Widerstand.“ (dreh-buch, 36).
Zuerst erschienen in artiCHOKE #15, gefördert vom Berliner Senat für Kultur und Europa
- 1. Zitat und Einordnung aus Sara Crangle, „The Agonies of Ambivalence: Anna Mendelssohn, La poétesse maudite“, Modernism/modernity, 25:3 (2018), S. 461–97. Im Original: „I’d slowly progressed from world politics to city (London) politics to local politics, till finally I was left with the smallest unit – myself. / And without a sense of humour what can be done?“ Übers. v. LJ.
- 2. Ebenda, [S. 11].
- 3. Siehe auch Peter Riley, „Anna Mendelssohn obituary“, The Guardian, 15.12.2009, https://www.theguardian.com/theguardian/2009/dec/15/anna-mendelssohn-obi..., Zugriff am 11.02.2019.
- 4. Im Hintergrund denke ich auch an die Vielzahl von teils sehr persönlichen Anmerkungen zum Tod von Angehörigen in faible? (2017; best-of der Bände von 2012-2016). Aus Platzgründen konzentriere ich mich hier aber auf die neueren Veröffentlichungen.
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