Anzeige
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
x
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Perspektiven gesucht, verstellt und gefunden

perspektive #82-#83
Hamburg

Ehrgeizige Literaturzeitschriften und Anthologien haben stets etwas Überpotentes; auf jeden Text muss man sich neu einstellen und einlassen. Oft sind selbst die hervorragendsten Sammlungen von Texten dazu verdammt. ein Konvolut ohne Schwerpunkt zu sein, das man nicht im Ganzen einschätzen kann, weil man dazu verschiedene Eindrücke zusammenbringen müsste, die sich weder vereinbaren lassen, noch in ihren Gegenständen gemeinsame Assoziationen aufweisen.

Auch die neuste Ausgabe der „perspektive – hefte für zeitgenössische literatur“ kann dieser Problematik nicht aus dem Weg gehen und hat sich, so mein Eindruck, entschieden, sie sogar eher zu forcieren und für sich zu nutzen.

Daraus entstanden ist eine wilde (wirklich: wilde. Der Leser sehe diesen Zusatz bitte nicht als bloßes Beiwerk an, sondern als konkrete Bezeichnung) Mischung, die sich durch vielerlei Obskuritäten und sprachliche Hart- und Weichzeichner hervortut und auszeichnet, gespeist von den Realien und Rektalien von Kultur, Pop und Literaturästhetik. Da ich die Geduld des Lesers nicht überstrapazieren will, werde ich nur auf einige wenige Beiträge umfassender eingehen.

(Zunächst möchte ich der „perspektive“ noch raten, ihr Outfit zu ändern, oder besser gesagt: ihr Infit. Denn ganz gleich, wie wunderbar anarchisch es teilweise in den Texten zugeht – die Form, wie sie gesetzt und arrangiert sind, hat etwas fundamental Destruktives und Angestrengtes an sich, das sofort wie eine schwer zu ignorierende Rückkopplung von den Seiten auf- und dem Leser in den Sehnerv steigt. Ich möchte hinein in die Literatur, und nicht, vor den Karren der Schrift gespannt, diesen unter Belastung über die Seiten des Heftes ziehen. Gerade weil Literaturzeitschriften aus vielen Texten bestehen, darf man sie nicht wie einen einzelnen Brocken, eine Textwurst, vor den Leser setzen! Aber genau das ist bei diesem Heft der „perspektive“ von Anfang an Programm, in einem Hochformat, was den missliebigen Eindruck noch verstärkt.)

Mich interessiert Literatur, und nicht Literaturpolitik. Das ist noch vorauszuschicken, denn ich werde der „perspektive“ sicher nicht so gerecht werden, wie jemand anders dies könnte, für den akademische Kulturpolitik ein reales, vielen Bewegungen ausgesetztes Schlachtfeld ist.

Schon der erste Beitrag, die geistreiche Protokollauseinandersetzung mit dem Tag eines Symposiums über „Die Kunst des Lesens. Sebastian Kiefers Perspektiven für den Umgang mit Dichtung in Theorie und Praxis“, brachte mir zwar einen Haufen an Ansichten und Reflexionen zur Materie, schneidet gut und tief ins Prozedere, aber schafft es nicht, mir den Gegenstand an sich irgendwie mit Faszination oder Bedeutung aufzuladen.

Es folgt ein Text (und es folgen ihm in Abständen Texte), bei dem (denen) ich mir vielfach nicht sicher bin, ob die Ausuferungen darin zur Satire, zur Ästhetik oder schlicht zu einer mir nicht ersichtlichen Pragmatik ausholen wollen. Interessante Texte teilweise, aber kaum zu mehr gut, als ihr beschränktes Areal auf bestimmter Höhe abzugrasen – was etwas für sich hat, aber wo soll das hinführen? (Nicht aus dem Heft hinaus und rein ins Leben, so viel meine ich feststellen zu können.) Für Antworten und Perspektiven von anderen Lesern wäre ich sehr dankbar!

Im Anschluss versinke ich in Performances, Blabla und Tulpenkrisen. Und tauche wieder auf neben Woody Allen und in dem Text von Sylvia Egger über Avantgarde (und Anspruch), der mich plötzlich als panoptisches Who is Who der österreichischen Literaturarchivkultur anspringt. Man beginnt bei einigen, an wunderbaren Haaren herbeigezogenen Paradebeispielen aus Allens Film „To Rome with love“, bevor ein einziger Absatzsprung einen mitten ins deutsche Literaturmuseum stolpern lässt. Und was man hier soll, das weiß man dann leider nicht mehr so genau – auch hier stellt sich wieder die Frage: Ist das ein Streiflicht, was da scheint, oder sind das die Frontscheinwerfer von Eggers kleinem Einmaleins des Archivs, das mit Vollgas über das Selbstverständnis dieser Institutionen hinwegbrettern will? Vielleicht ist es wichtig differenziert zu bleiben. Aber: warum dann schreiben, wenn man nicht auch mal was festmacht?

Mitten drin: „Hit me with your Selfiestick!“ Das gefällt mir. Nur weiß ich wieder nicht, worum zum Teufel es gehen soll bei diesen „Flüchtigkeiten zum Kongress der Möglichkeiten“. Nach diesem und ein, zwei anderen Sätzen würde ich es wirklich gerne wissen. Aber es wirkt schlicht, als würde jemand mit Eindrücken und nicht ganz dazu passenden Stilschnörkeln um sich werfen, darauf erpicht, meinen Kopf möglichst oft durch einen Treffer in eine andere Richtung zu rücken.

Die nächsten Doppelseiten gehören dafür dem an, was ich eine wunderbare Entdeckung nennen würde. Zuerst Verena Mermer, mit „Blaupause Fräuleinwunder“ und „Arbeitslos am ersten Mai“. Gelungen, kritisch, ohne dabei nur anecken zu wollen, feinste Kurzprosa. Dann: 7,2 Milliarden Paniken schlafen durch den Alltag als träumende, fleischige Sternschnuppen.

Das Theaterstück von Lilly Jäckl, „Targets“, ist sprachlich wunderbar gearbeitet, auch, wenn es in eine bekannte Kerbe schlägt – das Gefühl (still not overcome), der Hilflosigkeit; gespeist aus der Diskrepanz zwischen dem kleinen und immer noch schwindenden Grad, den der Mensch entgegen der überall aufleuchtenden Determinierung erklimmen kann; und seiner Sehnsucht nach einem Gipfel, auf dem er frei stehen und alles sehen und ordnen kann. Es geht natürlich noch um mehr, das Ganze ist ein Spiel mit Rollen und scheut auch aktuell-politische Referenzen nicht – in jedem Fall packt einen das Stück mit seiner Metaphysik direkt am existenziellen Schlafittchen und am sprachlichen Verwöhnpunkt.

Dann trau ich meinen Augen kaum: Mark Hamill-Oden? Is this a dream or just a sacrilege? It starts like: “aha”, than: funny and slightly ambitious – und irgendwie wird tatsächlich ein Schuh draus, aus dem großen Wörtchen Ode, über den schmalen Namen gelegt, der wiederum über der Rolle des Luke Skywalkers lag, ohne dass es heute noch jemand bemerken würde, wenn nicht gerade ein Abspann läuft, selbst wenn Hamills Stimme heute aus dem Off den Joker mimt. Stefan Schmitzers Hamill-Oden gelingt zumindest eins: die ganze Ratlosigkeit einer berühmten und zugleich banalen Existenz anzureißen, bei der man keine Ahnung hat, was darin vorgeht, auch weil es, von außen betrachtet, durch das Okular der medialen Präsens, nur Spärliches zu berichten gibt. Oden über einen Menschen, dessen Name sein ganzes Kapital ist, obwohl dieses Kapital eigentlich verschwindend gering ist ...

beim ableisten von obligatorischen promi- und halbgötterpflichten

Ich folge Ralf B. Korte und Arlette Louise Ndakoze über viele Seiten Paralleltext. Und ich würde mir wünschen, dass sich in diesen langen Zweistimmensound – der sich zwischen all den Reliquien und Einblendungen, die ihm durch die Finger gleiten, sich selbst daran hindert, irgendwo zu münden – noch eine Stimme schalten würde, die modelliert, was die beiden anderen nur entstehen lassen.

Florian Loders Gedichte kann man getrost links liegen lassen, sie passen in eine Westentasche voller einfacher Lösungen, die man zur Hand hat. Thomas Antonics lange Reflexionshavarie „J’accuse Bullshit – in Vorbereitung auf eine Höhlenmalerei“ – ist der hervorragendste Text der Ausgabe. Abfällig, enzyklopädisch, valery‘sch, bashend, Register ziehend, von Malmö angeweht, sinnlich, kopflastig, weich, gelungen im Abgang – je suis enchanté.

Der Monologe etwas müde lese ich mich, meine Aufmerksamkeit verdünnisiert sich, durch den Rest des Heftes.

Diese Heldennummer hat jetzt ein Ende.

Ein „Schade, schade“ kratzt sich am „Gott sei dank!“

P.S.: Die Geschmacklosigkeiten von Marek Sturmvogel am Ende: Briefe von Rilke und Trakl, originell als Gedicht gesetzt und umgeschrieben, mit Fäkalien verziert, will sagen: sprachlicher Kacke. Man mag ja gern grinsen, sich was erlauben, mal entzaubern, mal anecken, mal was erfinden: Gratulation! Ich habe mich lange nicht mehr so gelangweilt und gleichzeitig aufgeregt!

D. Holland-Moritz · Verena Mermer · Sylvia Egger · Evelyn Schalk · Thomas Antonic · Max Höfler · Lilly Jäckl · Ralf B. Korte · Florian Loder · Robert Herbert Mcclean · Arlette-Louise Ndakoze · Florian Neuner · Max Pfeifer · Ulrich Schlotmann · Erik Steffen · Marek Sturmvogel · Su Tiqqun · Ralf S. Werder · Lütfiye Güzel · Clemens Schittko · Stefan Schmitzer · Sylvia Egger (Hg.) · Ralf B. Korte (Hg.) · Silvia Stecher (Hg.)
perspektive #82-83 - widersand tippfehlen
hefte für zeitgenössische literatur
Perspektive
2015 · 182 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
ISSN 1021-9242

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge