Karte und Territorium
Man informiert sich über die Geschichte der Zeitschrift, die einem vorliegt, und findet heraus, dass es sich um eine ausgesprochen studentische Veranstaltung handelt. Die "alte Folge" wurde in den Neunzigern in Heidelberg als Zeitschrift am germanistischen Seminar herausgegeben; die "neue Folge", deren neunte Ausgabe vorliegt, erscheint in Berlin beim Elfenbein Verlag. Die Redaktion besteht zur Gänze aus Studierenden. Das alles sagt uns nun vielleicht etwas über den "Stallgeruch" der Zeitschrift, nicht über ihre Qualität. Gleichzeitig erschwert es die Rezension: Studenten also? ... Man erinnert sich an das eigene ratlose Herumzupfen im bunten Strauss irgend plausibel "richtiger" Literaturbegriffe, damals, als Studierender; man erinnert sich weiters, dass man da manch einen Unfug gedacht hatte, bis man ihn weit genug zu denken die Zeit fand; man erinnert sich schließlich mit Schrecken des Moments, da einem endlich aufging, dass der Literaturbetrieb als Gesamt-Ungetüm nicht von Theorie und Begriff geleitet ist, sondern ganz anderen, sagen wir greifbareren Faktoren, auf die einen das Germanistikstudium kaum vorbereiten konnte - ja dass im Verlags- und Feuilletonwesen die literarischen, oder sagen wir textlichen, Äquivalente der Kastelruther Spatzen, Karlheinz Stockhausens, der Sex Pistols und John Coltranes ganz unkommentiert dieselben Bühnen, zum Teil noch (unverständlicherweise) dasselbe Publikum und dieselben Laudatoren sich teilen.
Ja. An solches denkt man bei dem Wort "Studenten" in diesem Zusammenhang; und wenn man dann das Vorwort der "Vermessungs"-Ausgabe von metamorphosen durchliest, sieht man diesen Gedankenzug bestätigt - aber das nicht notwendigerweise zum Schlechten. Dieses Vorwort nämlich - unterzeichnet demokratisch-trocken mit "die Redaktion" - schildert die Aufgabenstellung der Zeitschrift folgendermaßen:
"Literaturzeitschriften als die Kartografieorgane des Betriebs (...) kennen zwar jeweils die ungefähren Ausmaße des Feldes, auf dem sie sich bewegen; es ganz zu überblicken scheint aber nie möglich. (...) Wer schreibt heute? Wie? Und welche tmen spielen dabei eine Rolle? Wer schreibt genauso? Wer nicht? Das sind Fragen, die wir (...) diesmal den Kollegen von fünf anderen Literaturmagazinen stellen, um unsere eigenen Beobachtungen beim Ordnen und" Sichten von Texten entweder bestätigt oder widerlegt zu finden."
Soll sein. Kann man lassen. Zwar ist die Landvermessungs-Metapher ziemlich angestaubt und leistet rhetorisch mehr als sachlich. Auch klingt die Anordnung ein wenig nach einer Seminar-Hausarbeit in Literatursoziologie, aber was solls? Auch solches kann der Wahrheitsfindung durchaus dienen.
Abgesehen nun von der zitierten Zeitschriftenumfrage (übrigens mit strikt gleichbleibendem Fragenkatalog) bietet metamorphosen 9 Aufsätze über die literarischen Felder sechs anderer Länder; einen Überblick über den letztjährigen "Prix du Jeune Écrivain de Langue Francaise", dem man inhaltlich nicht gänzlich zustimmen muss, um ihn sehr lesenswert zu finden; einige literarische (oder, wie der Uni-Jargon vielleicht sagen würde, Primär-) Texte; drei ausführliche Rezensionen zu kulturindustriellen Erzeugnissen in unterschiedlichen Medien (inklusive ein Computerspiel) und eine Kolumne.
Den Feuilletonteil, wenn man ihn so nennen darf, lese ich gerne, fühle mich zugleich unterhalten und über mir neue Entwicklungen, Personen, Sachverhalte unterrichtet. Was mich an ihm ein wenig ärgert ist, dass diese Beiträge - und zwar durchgängig - das für mich entscheidende Bisschen zu kurz, zu sehr to the point komponiert, zu "sauber" sind. Den Textsorten "Theoriebeitrag" und eben "Feuilleton" scheinen sie nicht recht angehören zu wollen; für reine Rezensionen und Berichte sind sie dagegen zu ambitioniert angelegt und zu literarisch überformt. Die erwähnte Durchgängigkeit dieser Merkmale spricht dafür, dass es sich um das Ergebnis sehr gezielter Arbeit von Redaktion und Lektorat handelt. Das würde auch bedeuten, dass das Redaktionskollektiv der metamorphosen hier ein distinktes textästhetisches Programm bewusst ausgearbeitet und ins Werk gesetzt hat. Wovor ich meinen Hut auch dann ziehe, wenn ich persönlich dieses spezielle Programm diskussionsbedürftig finde.
Einzig an dem Beitrag von Luzia Niedermeier über die Charlie-Hebdo-Morde und die Reaktionen der französischen Öffentlichkeit darauf habe ich inhaltlich ernstlich zu mäkeln: Nicht, dass dieser Beitrag irgend unrichtig wäre oder weit hinter den Hervorbringungen der Tageszeitungsfeuilletons zum gleichen Thema zurückbliebe. Man fragt sich bloß, warum ein so exzellent zu Reflexion geeignetes Medium wie das vorliegende nicht genutzt wird, um eben: Mehr, weiter zu denken, als die Zeitungen das zusammenbringen? Niedermeier schließt ihren Artikel mit einem Hinweis auf die langfristigen Folgen der Attentate und dann den Worten:
"Ich wollte erst einen weiteren, langen Abschnitt dazu verfassen, aber vielleicht ist es auch ganz gut mit einer Karikatur zu Papier gebracht."
Und das ist dann eben leider überhaupt nicht so: Eine Strichmännchenkarikatur, auf der unter der Überschrift "Zu eurem Besten" eine Überwachungskamera installiert wird, gerichtet auf Demonstranten (erkennbar an einem Transparent mit der Aufschrift "Freiheit"), das Ganze innerhalb eines mit "Europa" beschrifteten Begrenzungskreises... Da war die Kritik der öffentlichen Intellektuellen am Bestehenden schon mal artikulierter. Sorry, aber jener ungeschriebene Absatz hätte in jedem denkbaren Fall mehr hergegeben als diese Karikatur.
Von den fünf in der Kategorie "text" (im gegensatz zu "thema" und "kontext") erscheinenden literarischen Beiträgen hervorzuheben habe ich vor allem die Gedichte von Anna Hetzer. Ich hätte ihrer gerne mehr als nur diese drei gelesen und werde mich nach Fertigstellung dieser Rezension an eine Webrecherche zur Autorin machen, in der Hoffnung, irgendwo längere Gedichte im Tonfall von "blattgewächs" zu finden. Auch der Romanauszug von Jakob Nolte verrät eine sichere Hand und einigen Atem - allein, das Thema des abgedruckten Abschnitts ließ mich kalt. Gut möglich, dass ich als Ergebnis dieser Rezension seinen Roman ALFF ganz lesen werde; bereit, schwer enttäuscht oder schwer begeistert zu werden, je nachdem.
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