Essay

Die Sorgen der Bürger ernstnehmen?

Hamburg

Man hört – zumal seitens der Populisten – oft, die Regierenden nähmen die Sorgen der Bürger nicht hinreichend ernst. Man kann dem zustimmen, doch in einem ganz anderen Sinne, als die Populisten es meinen.

(1) Es wäre Zeit, die Sorgen der Bürger in dem Sinne ernstzunehmen, daß man sich fragt: Woher rühren diese Sorgen? Berechtigt sind sie ja jedenfalls nicht immer. Man würde schnell erkennen, daß die bangen Fragen fleißig gestreut werden, und zwar von den Populisten, die das Verdummende dieser Dauerpanik kennen und nutzen. Während Rechte eine Politik advozieren, die einem Feudalismus Vorschub leistet, sich gegen die einem intelligenten Kapitalismus immerhin noch eignende Diffusion von Vermögen ebenso wie gegen Soziales wenden, lenken sie von diesem in der Sache kaum mehrheitsfähigen Herangehen durch wirre Sündenbocktheorien ab, bei deren Substanzlosigkeit jede Sachlichkeit und Besonnenheit seitens der Wähler nur störte. Das müßte man zeigen: daß das, was rechts als sozial verkauft wird, ein Ressentiment wider die Ärmsten ist, das man den nicht ganz so Armen immer wieder vorbetet – bis diese statt einer systemischen Schieflage den Flüchtling oder den Obdachlosen als Problem sehen; das Fremde, das sozial oder national allzu nahe sei. Die „Unterschiede zum Nachbardorf sind […] für die Dörfler […] oft identitässtiftend” – wie hilfreich ist diese Identität, wem hilft sie? – Politik ist in der rechten Interpretation die Fassade des Feudalisten, der sie schließlich dazu nutzt, Politisches zu unterbinden. Denn das Kapital bleibt global, eine nationale Politik könnte, selbst wenn sie wollte, nichts anderes sein, als der verzweifelte Einspruch, ist im Falle der rechten Populisten aber sowieso die Empfehlung, sich dem ökonomischen Fatum zu ergeben.

(2) Statt dies zu kommunizieren: daß Rechte also künstliche Sorgen unters Volk bringen, das der hysterische Echoraum von Demagogen wird, wenn die Strategie von AfD, FPÖ und ihresgleichen aufgeht, statt zu zeigen, daß die Probleme, die die Rechten ansprechen, entweder nicht bestehen, oder nicht von jener Relevanz sind, vielleicht auch durch die Rechten verursacht und durch sie nicht zu lösen sind, geht manche Regierung einen anderen Weg. Man erwidert Scheinproblemen mit absurden Sachlösungen. Diese sind natürlich vor allem Ressourcenverschwendung: Man kann ein Problem, das es so nicht gibt, auch bei größter Kompetenz nicht lösen; und die Schein-Pragmatiker konzedieren implizit zudem, daß an den Diskursen der Rechten schon was dran wäre – die Hysterie, die sie beruhigen sollen, stacheln sie so an, denn dann braucht es nur noch den Populisten, der sagt, es sei also zum einen nun seine Sorge ja erhört worden, bloß andererseits unzureichend: Wenn ausgerechnet die einst linken „SPÖ-Wähler nur die Krone (Österreichs Pendant zur Bild, M.H.) lesen”, dann bedeutet das für manche, Scheinprobleme aus derselben zu lösen; statt endlich zu sagen, was von diesem Blatt zu halten ist, dessen Sorgen den Lesern und Wählern durch sie implantiert wird, nicht ihnen abgelauscht: Man kann womöglich nicht bloß auch gegen diese Medien vernünftig regieren, sondern nur gegen sie.

(3) Sorgen der Bürger? Es bedürfte einer Politik, die Sorgen der Bürger aufgriffe, die die Bürger haben müßten. Zum Beispiel jene vor einem Rückfall in der Demokratie, der wenigstens zweifach droht. Zum einen wie beschrieben dadurch, daß die, die durch die völlige Entkoppelung ihres Programms und der Kommunikation desselben den Großteil ihrer Wähler mit Scheinproblemen beschäftigen und zugleich intellektuell abrüsten und finanziell ausnutzen; zum anderen dadurch, daß die Privilegien, die eine rechte Politik verteilt, „die Partizipationschancen der Bürger in den angeblich entwickelten Demokratien des Westens extrem ungleich verteilt” zurücklassen… Erst mit dieser Sorge ließe sich diskutieren, wie Freiheit zu gewinnen wäre, die nicht dialektisch die Unterjochung anderer mitmeine, wie soziale Sicherheit nicht restriktiv wird, sondern womöglich im Gegenteil solche Regulierungen befreien, wie ein Sinn fürs Wünschbare erst durch Pragmatismus (etwa in der Steuerpolitik) hinreichend geschärft wird – alles nicht einfach, aber was einfach ist, ist meist auch nicht wahr.

Nachtrag

ALEXANDER VAN DER BELLEN: Die Kunst der Freiheit Dieser Essay beinhaltet Zitate von Alexander Van der Bellen: Die Kunst der Freiheit. In Zeiten zunehmender Unfreiheit. Wien: Christian Brandstätter Verlag s.l. – das ich gerne empfehlen möchte. „Zur Schriftstellerei fehlt mir […] das Talent”, so Van der Bellen, dies einer der wenigen Sätze, die in diesem Band nicht ganz stimmen. Ich empfehle dieses Buch freilich auch, weil ich (zumal in der derzeitigen Konstellation in Österreich) Van der Bellen in seiner Ambition, der nächste Präsident Österreichs zu werden, vorbehaltlos unterstütze.

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