Essay

Das Wort zündet eine Fackel an

Orientalische Einheit von Dichtung und Musik in der Kunst des Mugham
Hamburg

Seit der aserbaidschanische Sänger Alim Qasimov mit seiner "magischen Stimme" im Jahr 1999 den prestigeträchtigen Internationalen UNESCO Musikpreis, einen der international renommiertesten Musikpreise, verliehen bekam - Preisträger vor ihm waren Dmitri Shostakovich, Leonard Bernstein oder Ravi Shankar -, seither ist auch die jahrhundertealte orientalische Kunst des Mugham wieder mehr ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit getreten.

Mugham ist die höchst komplexe Musikdichtung des Kaukasus und der türkischsprachigen Völker in Zentralasien, und steht für eine einzigartige Verschmelzung von Dichtung und Musik. Seit dem 9. Jahrhundert beeinflußte die persische und arabische Musik die Bergvölker des Kaukasus. Fahrende Musiker zeigten ihre vokale und instrumentale Virtuosität an den Höfen der Khane und setzten den Grundstock für eine musikalische Tradition, die sich an den "fünf Fingern des Islam" orientierte: der Musik, der Literatur, der Philosophie, der Mathematik und der Astronomie. Die klassischen Mughams sind mündlich überliefert und komplex konstruierte Instrumental- und Gesangsstücke mit Melodien und Rhythmen, die in immer neu improvisierte Beziehungen zu den Textteilen gesetzt werden. So werden lediglich bei den Tonhöhen und bei einzelnen Melodien Festlegungen vorgenommen, ansonsten finden die Musiker Raum für freie Improvisationen. Mugham ist dabi nicht "Volksmusik" im einfachen Sinne, sondern die klassische Musik des Kaukasusraumes.

Alim Qasimov, 1957 in der Nähe der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku geboren, wird als der größte lebende Virtuose des Mugham angesehen. Selbst der sonst eher skeptische französischer Experte der Musik Zentralasiens, Jean During, läßt in Bezug auf ihn seiner Begeisterung freien Lauf: "Viele wollen ihn gar als den besten Sänger der Welt verstanden wissen. Vielleicht ist dies bei Qasimov doch der Fall, wenn man Faktoren wie die Kunst der modalen Komposition und Improvisation, die Virtuosität der Vokalisen, die Wahl der Texte, die Klarheit ihrer Artikulation und Verbundenheit mit der Melodie, die Vielfalt und Spontaneität in Betracht zieht, aber vor allem auch die Kunst, das Publikum einzubeziehen, es anzurühren und mit verschiedensten Gemütszuständen immer wieder zu bezaubern, ohne dabei in Manieriertheit zu verfallen" (sh. Booklet zur CD Qasimovs "The legendary Art of Mugham).

Qasimov selbst bezeichnet die Symbiose von Text und Musik im Mugham als "Speise für den Geist", etwas das "zusammen mit der Menschlichkeit geschaffen wurde - man kann es nicht nochmals schaffen". Mugham besteht aus aserbaidschanischen, persischen oder arabischen Gedichten, zumeist Liebeslieder, die in Verbindung zu improvisierter Musik gesetzt werden. Die Texte des Mugham, Tesnifi genannt, entstammen der Tradition der Ghasele, und sie gehen auf Gedichte berühmter Lyriker zurück und sind niedergeschrieben, ihre metrische Anordnung läßt dem Sänger aber Möglichkeiten der Variation in der Artikulation; freier ist der Sänger bei der Musik, denn je nach der speziellen Ausrichtung des Mugham quert die musikalische Improvisation eine bestimmte Anzahl von Viererakkorden. Die Improvisation für ein Mugham kann von dreißig Minuten bis zu ein paar Stunden dauern.
Woher kommt das Wort "Mugham"? Wahrscheinlich ist, daß es aus dem arabischen "Maqam" abgeleitet ist, das sich auf einen offiziellen Treffplatz bezieht, auf dem arabische Noble zusammenkamen, um Sagen und gereimte Prosagedichte oder Musik zu hören. Die Kunst des Mugham ist in ganz Transkaukasien, in Zentralasien und im gesamten Orient verbreitet, "aber vor allem in Aserbaidschan ist der Mugham tief in der Seele des Volkes verwurzelt", sagt Alim Qasimov.

Im frühen 20. Jahrhundert arbeitete der aserbaidschanische Komponist Uzeir Hajibeyov sieben Hauptarten von Mughams heraus (Rast, Shur-Shahnaz, Seygah, Bayati-Shiraz, Humayun, Heyrati und Chahargah), dazu fünf untergeordnete Arten von Mughams.

Jedem Mugham werde ein bestimmtes Gefühl oder eine Emotion zugeordnet. Zum Beispiel stehe "Seygah" für Kummer, "Shur-Shahnaz" für Zärtlichkeit. Alim Qasimov sieht die Grenzen fließender: "Manche sagen, daß "Charganah" im Geist von Kampf und Krieg steht. Ich sage, daß es auch für ein Gefühl des geistigen Wachstums steht." Alim Qasimov hat keine bevorzugte Richtung des Mugham: "Ich fühle die Natur, den Charakter, den Geruch und die Farbe eines jeden einzelnen. Man muß sie von innen heraus verstehen ... vielleicht ist es das, was den Geist befähigt, über den Körper hinauszugehen. Ich glaube an diese geistige Welt, ich glaube, daß sie nie zugrunde geht. Ich möchte Mugham als eine Welt des Geistes sehen. Der Geist ist nicht greifbar, wie Gott nicht zu greifen ist, er ist nicht wie die Mathematik, wo man eine Formel hat nach dem Schema: zwei mal zwei ist vier. Das würde begrenzen. Ich möchte Mugham als etwas unerschöfpliches sehen. Von dieser Sicht möchte ich nicht sagen, daß "Seygah" nur Kummer ausdrückt, oder "Shur" Zärtlichkeit. Mughams, jedes für sich, drücken eine Vielzahl an komplexen Gefühlen aus."
Für Mugham werden Ghasele, Gedichte des Orients mit einem bestimmten Versmaß, ausgewählt, die meist von bekannten klassischen Dichtern wie Khagani, Fizuli, Shirvani oder Sabir stammen. Die Gedichte müssen den Sänger direkt in seinen Gefühlen ansprechen: "Ich lese das Gedicht, und wenn es mein Herz höher schlagen läßt, wähle ich es aus", sagt Alim Qasimov. Die Mughamlyrik bezieht sich dabei auf menschliche Gefühle, die universell sind: Liebe, Leidenschaft, Einsamkeit, Kummer, Sehnsucht und Verrat. Die Interpretation dieser Gedichte hängt stark vom Zuhörer ab. Die Dichtung und die Musik stehen ebenbürtig nebeneinander - wobei die Musik weitgehend frei von einem strengen Regelwerk ist, die Dichtung dem gegenübersteht mit der vorgegebenen Form des Ghasels.

"Je älter man wird", sagt Alim Qasimov, "um so mehr Philosophie sieht man in den Gedichten." Und auch wenn manche Gedichte in arabischer oder persischer Sprache sind, der Sänger also nicht jedes einzelne Wort verstehen kann - "ich fühle und verstehe durch Intuition, was sie aussagen wollen", sagt Alim Qasimov, "vielleicht ist es besser, wenn ich die Gedichte dann selbst in der Musik interpretiere. Das Wort berührt mein Herz und zündet eine Fackel an."

Es gibt große Unterschiede, wie zeitgenössische Sänger Mugham vortragen, und auch gegenüber ihren Vorgängern finden Weiterentwicklungen statt. rühere bedeutende Sänger waren Seyid Shushinski und Jabbar Garyaghdioghlu, wobei die Kunst des Mugham heute sich wahrscheinlich näher an den früheren Formen, vielleicht vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts, orientiert - nach 70 Jahren weitgehender Stagnation in der Sowjetunion findet ein Anknüpfen an frühere Traditionen statt.

In der Sowjetunion war Mugham als für den Sowjetmenschen unwichtige Volkskunst abqualifiziert worden - und auch nicht gern gesehen, da Mugham auf die kulturelle Eigenständigkeit der Völker im Süden des Kaukasus hinwies. ennoch fügten auch hier Mugham-Künstler der Kunstmusik des Mugham ihre persönlichen Weiterentwicklungen hinzu - heute begeistern Mugham-Konzerte im gesamten kaukasischen und zentralasiatischen Raum - man sollte denken, sie seien inzwischen von der auch dort die Welt erobernden westlichen Disco-Musik verdrängt. Aber gerade junge Menschen wenden sich dem Mugham zu, die sich selbst, die Tradition ihrer Völker und ihrer Sprachen, gepaart mit ungeheuer modern anmutenden, improvisatorischen Möglichkeiten des Mugham, wiedererkennen.
Die Improvisation spielt die wichtige Rolle beim Mugham. "Sie kommt von ganz innen", sagt Alim Qasimov, "ich weiß nicht, wie diese Rhythmen zustandekommen, ich berechne sie nicht vorher. Ich höre auf mein Herz, und das gibt dem Rhythmus der Daf einen bestimmten Frieden." Der Sänger spielt auf der Daf, einer kleinen Rahmentrommel mit Glöckchen und Metallringen, dazu werden weitere Instrumente gespielt: die mit drei doppelchörigen Saiten ausgestattete Langhalslaute Tar, die mit der Haut eines Kuhherzens bespannt ist, und die viersaitige Spießgeige Kamancha, das Rohrblattinstrument Balaban und die kleinen Pauken Nagara. Die Führung beim Mugham liegt beim Sänger, die Interaktion zwischen den Instrumentalisten gibt dem Mugham aber seine spezifische Charakteristik - die Imitation der Melodielinien durch die Tar- und Kamandscha-Spieler wie auch die Vorgabe einer neuen Linie für den Sänger. In seinem Innersten ist Mugham Improvisation - "du schwimmst", sagt Alim Qasimov, "und es hört nie auf"; ein Leben im Mugham.

Mugham ist nicht einfach zu verstehen. Der Zuhörer muß sich zunächst einmal auf das Timbre, auf die Qualität der Stimme des Sängers konzentrieren; aber auch, wie diese in der Lage ist, Emotionen hervorzurufen. Und dann muß er auf die Linien der vorgetragenen Improvisationen achten und darauf, wie die Stimme diese bewältigt." Er muß sich ganz auf die Musik einlassen und erlebt dann, wie seine Phantasie auf Reisen geht, auch wenn er die vorgetragenen Gedichte nicht versteht.
Extreme Intensität und Konzentration machen den guten Sänger aus. Und Mugham kann, so die Überzeugung vieler Sänger, einen reinigenden Effekt sowohl auf den Sänger als auch auf die Zuhörer haben - "ich bin sicher, es kann sogar Kriminelle davon abhalten, Verbrechen zu begehen", sagt Alim Qasimov. Es gebe keinen Platz für Haß in einem Herzen, wenn Mugham gehört wird. Die Inhalte des Mugham wirkten direkt auf die Seele. "Jeder einzelne Ton ist Ausdruck elementarer Gefühle", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Alim Qasimov, "die grazile Schönheit und atmosphärische Dichte der Musik überbrückt Stunden wie Jahrhunderte, schafft Augenblicke der Ewigkeit." Und Le Monde schrieb: "Der Sänger muß Schmerz wie Ekstase fühlen, um sie überhaupt interpretieren zu können."

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