Muchtar Schachanow
2000 Zuhörer bei Lesungen sind bei Muchtar Schachanow, kasachischer Volksdichter und "ungekrönter König der Demokratiebewegung", wie es sein Übersetzer Friedrich Hitzer formuliert, keine Seltenheit. Dichtung hat in den Ländern der Steppe und damit auch der Weite zwischen China und dem Kaukasus noch den Stellenwert eines Gutes, das dem gesamten Volk gehört; noch, und da schränkt Muchtar Schachanow bereits ein, denn seit den großen Umbrüchen nach dem Zerfall der Sowjetunion verändert sich auch in den zentralasiatischen Staaten vieles: Heutzutage spiele in allen Nachfolgestaaten des einstigen Riesenreiches der Sowjetunion das Geld eine dominierende Rolle, und geistige Werte befänden sich überall fluchtartig auf dem Rückzug. Und damit ist Muchtar Schachanow bereits bei seinem Thema - einem Thema, das auch sein Buch "Irrweg der Zivilisation - Ein Gesang aus Kasachstan" (auf deutsch erschienen im Pendo Verlag, Zürich 1999, wundervoll übersetzt von Friedrich Hitzer, gefördert durch den Verein zur Förderung von Literatur aus Afrika, Lateinamerika und Asien) beherrscht: das Verlorengehen von Traditionen und kulturellen Erinnerungen der Völker, das er immer wieder dokumentiert und nachvollzieht an dem Beispiel seines eigenen, kasachischen Volkes. Zum Beispiel wie dessen einstige Kultur von Tschingis Khan und seinen Horden überrannt, zerstört und in weiten Teilen so ausgelöscht wurde, dass bis heute die Sehnsucht der Alten des Volkes, der "Steppenakademie", wie Muchtar Schachanow sie nennt - die nicht mit einer formalen akademischen Bildung, aber dennoch mit großer Weisheit ausgestatteten Alten seines Volkes - zu den Ursprüngen der Kultur des eigenen Volkes zurückgeht und sie versuchen, die Traditionen des eigenen Volkes an die Jungen weiterzugeben.
Muchtar Schachanow, 1942 geboren, ist heute der berühmteste Lyriker Kasachstans und gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller ganz Zentralasiens. Seine Bücher wurden in 25 Sprachen übersetzt - allein sein neuestes Werk, das von ihm als "Gesang" bezeichnete Buch "Irrweg der Zivilisation", erschien fast zeitgleich in kasachischer, in russischer, englischer und deutscher Sprache, ausserdem wurde es von der UNO an die Staatsoberhäupter der Welt verteilt und fand damit eine unvergleichliche Verbreitung über alle Erdteile.
Muchtar Schachanow ist aber nicht nur der "Dichterkönig" seines Landes, sondern er engagiert sich nach wie vor stark für die Umweltbewegung, nachdem er eine Initiative zur Rettung des Aralsees gegründet hatte und dafür mit dem UNO-Preis für Umweltschutz ausgezeichnet wurde. Mit anderen Intellektuellen Asiens ist er Mitgründer der Vereinigung AKNAZAS, der Versammlung der Kulturen der Völker Zentralasiens, und in dieser Vereinigung ist er heute der Stellvertreter des Präsidenten, eines anderen wichtigen zentralasiatischen Schriftstellers, Tschingis Aitmatow.
Muchtar Schachanow, für einige Monate Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin, kam zur Begegnung mit Lesern und mit Schülern nach Calw im Schwarzwald. Für zwei Tage ergab sich die Gelegenheit, den Dichter und seine Weltsicht näher kennenzulernen. In der Hesse-Stadt besuchte er zusammen mit seinem Übersetzer, Friedrich Hitzer, das Hermann-Hesse-Museum - und fand Parallelen zum eigenen Wirken: die weltweite Wirkung des Dichters Hermann Hesse habe auch ihren Ursprung in dieser kleinen Stadt Calw genommen, die Hesse Heimat war und blieb, wo er seine Wurzeln hatte, führte Schachanow Anklänge an seine Erinnerungen an die eigene Heimat aus und zeigte, dass er mit dem Werk Hesses bestens vertraut ist.
An die Bezeichnung "Dichter" erhebt Muchtar Schachanow höchste Ansprüche: In seiner Heimat, so führt er aus, dürfe sich nur der als Dichter bezeichnen, der mindestens 2000 Zeilen der ihm vorangegangenen Volksdichter auswendig kenne, der also auf dieser Tradition aufbauen und dem eigenes hinzufügen kann. So hat auch er in seinem neuen Poem "Irrweg der Zivilisation" Gedanken von Gelehrten aufgenommen, die über 1000 Jahre alt sind, Gedanken wie den Rat des Heilenden an den Kranken, er solle jeden Tag an seinem Nächsten eine gute Tat vollbringen, weil er dadurch, dass er anderen helfe, selbst die Energie des Dankes zu spüren bekomme, die sich auf ihn übertrage - und Muchtar Schachanow zeigt, dass die Gedanken der Vorfahren heute so aktuell sein können wie vor 1000 Jahren, mitunter könnten sie wie in diesem all heute sogar wissenschaftlich auf ihre Wirkungskraft hin nachgewiesen werden.
95 Prozent der Menschen lebten nach dem Prinzip der Imitation, sagt Muchtar Schachanow fast anklagend, und nicht um die restlichen fünf Prozent Individualisten hätten sich die Tyrannen über die Jahrhunderte hinweg, ob sie Tschingis Khan, Hitler oder Stalin hießen, gekümmert, sondern um die 95 Prozent, von denen die größte Gefahr für die Menschheit ausginge: sie seien es, die manipulierbar sind für Ideen und Verführungen. In der heutigen Welt gebe es zwei große Verführungen, fasst Muchtar Schachanow sein Denken und das Ergebnis seines Denkens in seinem neuen Werk "Irrweg der Zivilisation" zusammen: den kommerzionalisierten Sport und die Welt der Massenkultur, die vor allem in der permanenten Beschallung des Menschen, der Berieselung mit destruktiven Geräuschen, Ausdruck finde. Als solche empfinde er auch den zerstörerischen Einfluss der weltweit gleichgeschalteten Musik auf junge Menschen. Dass er nicht nur seinen sorgfältig durchdachten Theorien in seiner Literatur und in Gesprächen Ausdruck gibt, sondern umfangreich recherchiert hat, belegen Beispiele: Eine subtile Methode der Beeinflussung ganzer Völker nach der Eroberung durch Nazi-Deutschland war die permanente Berieselung mit Musik, was verhindern sollte, dass sie sich mit geistigen Problemen befassen - als "geistige Anarchie" bezeichnet dies Muchtar Schachanow, genauso wie das Beispiel der Frau, die von Stalins Sicherheitspolizei ins "Musikzimmer" gebracht wurde und dort über Tage hinweg von sorgfältig zusammengemischter Musik beschallt wurde, bis ihr Gedächtnis so weit gelöscht war, dass sie nicht einmal mehr ihren Wohnort kannte.
"Hitlers Wunsch hat sich heute erfüllt", stellt Muchtar Schachanow ernüchtert fest, die Rock- und Popkultur habe die gesamte Welt gleichgeschaltet, die Koryphäen des Geistes sind in ihrer Popularität im Vergleich zu den Popstars kläglich. Die Menschen heutiger Generationen verlören die Orientierung in einer gleichgeschalteten Welt, die Denkfunktionen des Gehirns würden gehemmt, die Destruktivität der heute weltweit verbreiteten Musik der Massenkultur trenne Traditionen ab und mache das nicht mehr möglich, was er als die Berufung des Künstlers, des Dichters sehe: eine eigene Meinung zu haben, eine eigene Sicht der Welt. Eine Umkehr der Entwicklung sehe er nicht, erklärt Muchtar Schachanow pessimistisch. Dieser Entwicklung hat der große Dichter Muchtar Schachanow, die dichterische Stimme Zentralasiens in der Welt, aus der Tradition der Philosophien seines Volkes heraus und unter den Einflüssen der Denker der ganzen Welt, die er studiert hat, ein großes Gedicht entgegengesetzt. Ein Werk, in dem er die Welt von heute beschreibt, eine Zivilisation, die vom Westen geprägt ist, gesehen mit den Augen eines zentralasiatischen Dichters, vor dem Wissen, dass menschliche Intuition durch den Computer nicht ersetzt werden kann. Dieser Muchtar Schachanow nimmt seine Funktion als Dichter trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner eigentlich zum Pessimismus führenden Feststellungen ernst. Er fürchtet den Untergang kulturell geprägter Identitäten, und er kämpft trotzig an gegen die Nivellierung menschlichen Lebens in der Welt, denn, so Schachanow, nur mit den Intuitionen von Künstlern, von Dichtern, könne sich der einzelne Mensch seine eigene Sicht auf die Dinge der Welt aneignen.
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