Essay
Die Sperre vor dem Farnkraut - Poetologische Betrachtungen der Beiläufigkeit bei Peter Handke
Der Autor Peter Handke ist für überraschende Verwandlungen bekannt. Schon 1970 hatte er mit Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter eine Abkehr vom sprachexperimentellen Frühwerk vollzogen und das scheinbar geordnete Erzählen geübt. Er folgte der neuen Innerlichkeit, die in den 70er Jahren populär wurde. Bald aber sprengte er das implizite Konzept dieser Literatur. Jene neue Innerlichkeit zehrte von einer merkwürdigen Beglaubigung ihrer Fiktion. Der Autor wurde zum intimem Chronisten seiner Lebenswelt. Sein Engagement hatte er in den Privatraum verlagert. Dort war er vor den Zugriffen der Revolte geschützt. Peter Handke kam nicht aus den sozial engagierten Kreisen, die einer Innerlichkeit den Stempel des gereiften Protests gaben. Doch er übernahm den Anspruch einer Befreiung vom konventionellen Text. Und er formte seine Poetik aus einer anderen Innerlichkeit. Sie war im Privaten verborgen: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.
War es eine reaktionäre Abkehr vom Credo, das Private müsse politisch sein? Ein Befreiungsschlag jedenfalls. Poetisierung des eigenen Blicks, der sich befreien wollte. Von der Last der großen Geschichte. Von einer bleiernen Nachkriegszeit. Von der Diskursvergiftung der Literatur. All den großen Begriffen und überragenden Worten abzusagen, das wurde Peter Handkes Credo. Er bildete mit einer an Francis Ponge geschulten Sorgfalt die Welt des verlorenen Augenblicks nach.
Die magische Radkappe
Peter Handke verkündete in den 70er Jahren, dass er nicht mehr an eine erzählenswerte Geschichte glaube. Es erinnerte an den wirkungsvollen Protest der Publikumsbeschimpfung. Während einer Gruppe 47-Tagung in Princeton 1966 hatte er ins gleiche Kerbholz geschlagen und Autoren seiner Zeit eine Beschreibungsimpotenz attestiert. Andererseits hatte er jetzt ein Gegenmittel gefunden. Es waren die beiläufigen Momente, die ihn interessierten. Das Abfallen einer Radkappe. Auch der Krach eines aufprallenden Autos. Sie markierten eine Entwertung in der Hierarchie von Ereignissen. Kein noch so beiläufiger Moment überwog den schon mit Bedeutung versehenen Augenblick. Eine Geschichte setzte sich erst im Inneren des Betrachters zusammen.
Daraus sprach Erkenntnistrotz. Denn Peter Handke ging es wohl immer auch um die Absetzung vom Mainstream. Manches Mal gelang ihm der Protest kraftvoll. Publikumsbeschimpfung oder Kaspar räumten auf mit der gemütlichen Vorstellung eines Schutzraums, aus dem Literatur tritt. Privilegiert war sie für Peter Handke nur im Auffinden des beiläufigen Moments. Dieser Moment war der Schlüssel zu einer eigenen Sprache. Wer machte sich die Mühe, nach ihr zu suchen?
Jedenfalls nicht die beredten Autoren der Lebensbeichte. Peter Handke musste eine eigene Innerlichkeit kultivieren. Ohnehin brachten die 80er Jahre das Beichterzählen in die Krise. Man scheute klare Aussagen und stellte sich auf eine lange Wartezeit ein. Doch Peter Handkes poetische Testfahrt ging weiter. Er spürte den beiläufigen Momenten des Lebens in Die Stunde der wahren Empfindung nach. Und ganz programmatisch schrieb er: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Mit einem Bericht über seine Mutter in Wunschloses Unglück kam er später zur Erzählung zurück. Das Buch zählt der Tendenz nach zur Neuen Innerlichkeit.
Ausbrüche des Glücks
Doch schaut man genau hin, fällt die Fernperspektive des Erzählers auf. Er scheint das unglückliche Leben seiner Mutter ständig auf Distanz zu halten. Sein Blick auf sie ist fotografisch. Er eist ihre Biografie ein, und wärmt sie nicht im Sinn der Epoche auf. Also kein Bekenntnis und auch kein Engagement. Peter Handke erzählt am Beispiel seiner Mutter über die Poesie des Lebens, die sich in den kleinen Momenten ihrer sonst so festgezurrten Existenz zeigt. Oder: Er legte für seine Mutter die Poesie ihres offenkundig unglücklichen Lebens frei. Eine nachgeholte Tat der Liebe. Eine Rettung und eine Verteidigung der Mutter. Gegen Kärnten und das starre Österreich der Nachkriegszeit. Gegen die vielen Männer, die seine Mutter ausnutzen. Gegen ihre herrische Bestimmung, die uns zu denen macht, von denen wir später glauben, dass wir sie sind.
Wer wir sind, ist eine offene Frage. Das möchte man aus allen Werken Peter Handkes herauslesen. Es ist eine weit ausreichende Frage. Dabei handelt es sich auch um bildungsbürgerliches Gut. Viel Schutt liegt auf der Halde dieser Frage. In der Entwicklung Peter Handkes zeigt sich ein Drang nach der Emanzipation von diesen Schuttbergen. Weg vom ewig gleichen Traditionsweg zu kommen und dem Internatsschüler von einst die Zunge zu zeigen. Das gelang ihm in den ersten Jahren mit Revolte, mit Beat und der Coolness der 60er Jahre. Danach ging er auf eine sehr programmatische Langsame Heimkehr. Peter Handke fand tastend und zögerlich zu einer eigenen Sprache, die nicht im Sperrfeuer der Revolte stand. Er lernte das Ausharren in der eigenen Sprache. Darin ähnelte er dem Findelkind Kaspar Hauser. Oft reflektierte er die Suche nach einer eigenen Sprache, die behutsame Rückkehr zum Erzählen. Dahinter sah man die Angst vor dem Verlust der Beiläufigkeit. Jener stark flüchtigen Sekunde, da die Radkappe ausrollt. Staub im Straßengraben aufwirbelt und zum Liegen kommt. Es galt, angestrengt zu beobachten. Und keine Falsche Bewegung zu machen. Zwei Jahrzehnte später noch griff Peter Handke die Außenseite der Innenseite auf und gab ihr jetzt das Gepräge einer stummen choreographischen Handlung: Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten.
Stündliche Umkehrungsversuche
Der Weg führte ihn vom Beschriebenen zum Unbeschreiblichen. Eben dorthin, wo es nichts aussagen will, wer wir sind. Ein kurzer Brief zum langen Abschied steht dem Titel nach für die Langwierigkeit des Wegs. Seine anhaltende Einkehr ins private Terrain zeigte sich während jener Wartezeit der 80er Jahre. Der Nachmittag eines Schriftstellers leitete in eine Reihe von poetischen Erkundungen über. Hier waren es scheinbar festgelegte Subjekt-Objekt-Beziehungen, die Peter Handke durch seinen beiläufigen Blick loszurrte. Wieder musste sein Blick rückwärts gehen, das Gewohnte erst abstreifen. In der Philosophie würde man von einer hermeneutischen Freilegungsarbeit sprechen. So waren diese Versuche (Versuch über die Müdigkeit, Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag) private und gleichzeitig öffentliche Schriften. Sie stellten das Politische der eigenen Sensation heraus. Peter Handke hatte seine Innerlichkeit militarisiert. Die Versuche waren auch so etwas wie aufprallende Radkappen und Wurfgeschosse für den Kampf des Helden Kaspar mit den Vernünftigen. Die eine Sprache besitzen, die nicht ihre Prägung besitzt. Peter Handke stellte der Zeit eine idealistische, an den Essays Montaignes orientierte Innerlichkeit entgegen. Danach wurde es still um ihn. In den Ritzen der Welt verschwand er beiläufig. Der Gipfel dieser inneren Einkehr war eine poetologische Suche im Gewand einer Selbsterkundung: Mein Jahr in der Niemandsbucht.