Die Sperre vor dem Farnkraut

Essay

Autor:
Jan Decker
 

Essay

Die Sperre vor dem Farnkraut - Poetologische Betrachtungen der Beiläufigkeit bei Peter Handke

Gomringer und die serbische Ikonenmalerei
Die Sprache wird zu einer zweiten Existenz, von der aus die kundigsten Beschreibungen des Lebens erfolgen. Was ist nun aber mit Serbien? So könnte man das Land unter einem freieren Aspekt als ein Refugium der mündlichen Tradition beäugen. Man könnte dieses Serbien heroisieren. Ihm eine gegenaufklärerische Überlegenheit andichten. Nur: Ist das für einen Staat wahr, was für das Individuum wahr ist? Kann man sich über Konzepte hinwegsetzen und noch in der perfiden Politik von Slobodan Milošević das Walten der Ursprünglichkeit erkennen? Vermutlich kann es so ein freies Beäugen gar nicht geben. Denn die Instrumentalisierung wohnt auch im poetischen Blick. Eine merkwürdige Simultanität: Auch Martin Heidegger wollte den denkenden Blick von Erstarrung befreien. So hat man die traurige Vermutung, dass Peter Handke die Autoren der Konkreten Poesie für den Heimatdiskurs vorbereiten will. Wie wäre es mit Eugen Gomringer als Sänger des verlorenen Bolivien? Es bedeutet eine implizite Herabwürdigung der formalen Konzeptionen. Und es ist die typische konservative Eingemeindung: Jetzt spinnt mal nicht mehr. Wir verzeihen euch später. Peter Handke nennt in der Laudatio, die sich als ein interessantes Dokument erweist, auch ein anspruchsvolles Zitat von Carlfriedrich Claus:

Den Blick füllen mit alter Schrift und Schrift-Figur. (Die Abbild ist: der inneren Figur einer Phase des großen Experiments: Natur- wie Mensch-Werdung.) Innewerden der: noch nicht abgelaufenen Subjekt- und Objekt-Erläuterungen.

Natürlich, das sind reizvolle Überlegungen. Kann man sie denn in einer gewagten Kehre auch auf die serbische Ikonenmalerei beziehen? Diese Mutmaßungen führen ins Leere. Es ist unlauter, Peter Handke für seine proserbische Einstellung in eine geistige Sippenhaft zu nehmen. Er will diese Sperre nehmen. Und es gibt einen längeren Gedankengang in der Laudatio auf Jürgen Becker, der Peter Handkes Kehre in seinen eigenen Worten beschreibt:

Vor mehr als vierzig Jahren habe ich [...] für den Österreichischen Rundfunk eine Kritik zu Jürgen Beckers Buch Felder geschrieben. Meine Erinnerung sagt, dass ich den Band der edition suhrkamp seinerzeit zwar nicht kurzweg abgetan, aber doch eher achtlos behandelt habe. Und das kam in etwa so: Es war damals gegen die Mitte der sechziger Jahre, und nicht nur in Graz, im Kreis um die manuskripte, es war das die Zeit der Konkreten Poesie. Und, obwohl mit meinen Prosaanfängen nicht zu dem Kreis gezählt, war ich, weniger als Leser denn als Betrachter und Hörer, hypnotisiert von den puren Formen, streng und rein oberflächlichen, strikt nichts Inhaltliches bedeutenden Anordnungen, Konstruktionen, Permutationen, den Rhythmen dieser meist herrischen Wortsetzungen. Kontra: Ohne die Texte eigens wiederzulesen, ist mir klar, dass es sich vor allem um Risse handelt, keiner Formenwelt angehörig als der des Jürgen Becker höchst- wie tiefstpersönlich, um Umrisse einer Eigenwelt ohne jede verfügbare, gereihte, serielle, rhythmisierbare Form oder Vorform, Umrisse, gekennzeichnet durch eine Art, wie nur Jürgen Becker sie hat: sein spezielles Zögern, das, eins der von ihm häufigstgebrauchten Wörter auch, all seine Bücher durchzieht, so wie die Äpfel, der Schnee, die Gurken aus dem Spreewald und die Kiefern im Märkischen Sand.

Peter Handke hatte 1970 eine Sammlung von Texten veröffentlicht, die als Deutsche Gedichte die Simulation schon im Titel trugen. Es handelt sich um pure Formen oder herrische Wortsetzungen, wenn man diesem späteren Urteil des Autors folgt. Die Texte sind Readymades. Sie haben nicht mehr zum Inhalt als vorgefundene Sprachfolgen. Beispielhaft für die suggestive Anmutung dieser Sprachfolgen ist Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 26.1.1968. Umgekehrt sind sie jetzt nichts weiter als Oberflächen, als verfügbare, gereihte, serielle, rhythmisierbare Form? Es sind die Risse im Individuum, die Peter Handke nach seiner Abkehr von der Konkreten Poesie beschäftigen. Oder schon davor, wenn einem die Kehre als eine organische Abkehr erscheint. Denn Peter Handke hat diese formalen Experimente wohl zu eifrig betrieben und als Station auf dem Weg zu einem eigenen Ton. Noch immer scheint er ungefestigt zu sein. Unvernünftig bis zum Unaushaltbaren. Doch überhebt er sich bald in Staatsangelegenheiten? Verliert er dabei die schöne Beiläufigkeit aus dem Blick? Man möchte hoffen, dass Peter Handke seine eigene Fährte nicht reaktionär liest. Schließlich spricht aus seinem Werk eine andere Sprache.
Die Beiläufigkeit ist vor der Geschichte nicht zu halten. Sie braucht den Schutz des Erzählenden. Was zeichnet sie aus? Wir erleben sie ja nicht kollektiv. Um diese verschwundenen Sekunden nachzuerleben, müssen wir die kollektive Warte aufgeben. Die Ungeduld der Masse. Die Bilder von der Stange. Hunger nach einer standardisierten Sprache. Es ist eine Rosskur. Eine moderne Katharsis. Wir werden durch das Beiläufige mit einer neuen Zeitlichkeit vertraut. Das Tröpfeln eines Augenblicks wird hörbar sein. So könnte man die Poetologie der Beiläufigkeit umreißen.

Die Simulation des Vorbeilaufens

Das Beiläufige als ein Vorbeigehen aneinander gestaltete Peter Handke zuletzt als soziale Bewegung. Es trug da einen skeptischen Ton. Zuviel Beiläufigkeit scheint der Mensch in der Gemeinschaft nicht zu ertragen. Es ist auch nicht immer ein Poet zur Seite, der die Ereignislosigkeit aus dem Stand in einen Aufbruch verwandeln kann. Aber immer noch liegt etwas Sozialromantik in der Luft, wenn Peter Handke gewohnte Wege in die Irre gehen lässt. Nicht umsonst heißt sein aktuelles Theaterstück Spuren der Verirrten. Da sind Figuren in der Wanderung begriffen. Aus der Ferne erinnert man sich, dass im Burgtheater schon der Gegengeher Peter Handkes einige Statements zur menschlichen Verirrung abgeben konnte. Ist es denn nur die sprachliche Meisterschaft, die Peter Handke vor einer Thomas-Bernhard-Beschimpfung bewahrt? Nein, die neueste Variation der Beiläufigkeit ist eigenständig und kraftvoll. Es kommt bei Peter Handke nie ein Psychologismus auf, den man doch vermutet. Und  wieder schafft er es, Figuren in eine eigentümlichen Schwebe gleiten zu lassen. Ihre Sprache ist tastend wie ihre Schritte. Die Gehversuche einer sich noch unbekannten Gruppe. Wer sie sind, bleibt offen.

Literatur
Peter Handke: Gurken und Kiefern, Äpfel und Schnee. Laudatio zum Hermann-Lenz-Preis an Jürgen Becker

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