weitere Infos zum Beitrag
Prosa
Antarktis-Hirnwäsche - Der Steinböke-Mord im Drosteland
Einstöckige Häuser aus Holz und aus Stahl, die Straßen eingeebnet und von schwarzer Asche belegt, Gabelstapler, Bulldozer und haushohe Traktoren wälzen sich knirschend darüber, unter Hochspannungsleitungen her, die ein Spinnennetz bauen vor dem vierundzwanzigstündig hellen bleiweißen Himmel. Die Polarstation Nirwnij in der Antarktis vibriert. Keiner kann einschlafen, solange es hell ist, und hell ist es immer, Tausende von Männern liegen allabendlich wach, Abende durch Uhren und Zeitpläne bestimmt, warten auf Schlaf und Traum, bis sie nach Tagen in bleiernen Erschöpfungsschlaf fallen, der nicht erfrischt. Morgens, einem Kunstmorgen, uhrengefertigt, freuen sie sich, beim Frühstück zu sitzen mit den anderen Männern, noch genießen sie die Ruhe, ungestört durch das früher vertraute Gezwitscher der Kaffee eingießenden Frauen. In den Straßen tagsüber und nachtsüber ist Nirwnij eine auf den ersten Blick eine normale Stadt, die sich nur im Wirbel ihrer Motoren schneller bewegt, den Neuankömmling reißt das mit.
Erst später spürt er den Mangel: unbewusst erst vermisst er und sucht er schwingende Röcke und den andersartigen Rhythmus des Ganges und bemerkt: es sind alles Männer. Nirwnij ist in jedem Sinne eine künstliche, eine synthetische Stadt, Unstadt am Ende der Welt. Antarktis wird Unland. Erst dann. Dabei bleibt es wie in Fernwehträumen der Jugend, wo das Weiß der Landkarte abenteuerlustige Neugierige anzog, Magie aus Eisschichten, die Reinheit bergen, wo Fäulnis sonst wäre. Hier gibt es wirklich weder Feuchtigkeit noch Verfall. Alles, was fällt, wird steinern im Eis. Nichts verwest. Nichts verfault. Nichts welkt hin. Alles stirbt auf lautlose reinliche Weise. Lebt für immer für vorläufige Ewigkeit bis zur nächsten Erdwende, lebt leblos im glasigen Stein, wie als Insekt im Kristall eingeschlossen. Eingekerkert. Antarktis aus Jungenphantastereien, aus Reisebüchern und Landkartenfahrten gebaut: grellweiße Wüste, die sich zum Horizont hin-dehnt und beinahe konturenlos in ihn eingeht bis auf diese Stunde, wo das Licht als handbreiter Streif zieht quer über den nördlichen Globus, randloser Tisch aus Eis drei Meilen dick und darunter doch Lebewesen eingeschlossen: an Tieren und Farnen und Bäumen urtümlich und urwaldüppig aus gleichen Zuständen wie sie am Amazonas noch immer sind. Menschen und ihre Spuren in Stein, meilentief unter Packeis erhalten, Erdoberfläche von Spalten zerrissen wie rissige Haut schmalen Bergketten türmen.
Sastrugibäche und Schneeberge sind ein Weserbergland in Weiß, denn wenn auch die Spitzen einzelner Eisnadeln hervorstechen und grau-gläsern aussehen, so hat die Eislandschaft doch nur in der geologischen Struktur eine Spur von Abwechslung, nicht in der Farbe. Hirn vereist. Elektronik und Chemikalie gebrauchten sie, Perfidocyklin und Hypertrophobin, um gespeicherte Erinnerungen von Jahrzehnten zu löschen. Noch war es ihnen nicht für mehr als fünf Monate möglich, als ich mit ihnen zu tun bekam, aber weiter würden sie forschen. Jede Untat ohne Schuldgefühl zu begehen, war ihr geschworenes Ziel. Nicht in der Antarktis bin ich gewesen, nicht Sastrugispalten im Eis hab ich gesehen; im platten Westfalen habe ich meine Frau gefoltert und meine Tochter ermordet. Alle Erinnerungen haben sie gelöscht. Nicht leergelassen die Zeit. Angefüllt mit den schönen antarktischen Bildern, ausgefüllt die Gedächtniskammern mit Eislandschaft. Gewesen: westfälisches Land und Mord. Nein, ein dahinvegetierendes Nichts sei ich mitnichten.
Wie viele Informationen empfange das Hirn während des Menschenlebens? Trillionen, haben wir erforscht, und nur einen verschwindenden Rest speichre das Hirn. Sonst alles vergessen, nicht frei seien wir, zu wählen, was wir vergessen, was merken. Warum nicht willkürlich eingreifen? Und welche Erinnerung sei schöner, die an die Eis-Paradiese meiner antarktischen Forschungsperiode oder jene an meinen Mord und Totschlag im warmen Mitteleuropa? Und doch will ich sehen, ob ich nicht gegen die Gehirntodpest ein Abwehrsystem entwickeln könne, Immunisierung wie gegen spinale Kinderlähmung zu erfinden ist mein erkorenes Ziel.
Hedda Herzsprung-Steinböke ist eine schöne Frau gewesen, als ich sie kennen lernte. Klug, still und scheu. Geschaffen, andere glücklich zu machen und fröhlich. Das bin ich auch anfangs gewesen. Elisabeth, meine Lisa, meine Tochter und ein wenig auch ihre, ist wie die Mutter geraten. Noch zarter, noch klüger, noch schöner, noch stiller. Doch da war neben der Scheu und dem Schweigen der plötzliche Zorn; ich bestreite, dass er von mir geerbt sei. Wie kann die Mutter, wie kann Hedda so etwas sagen? Sitzt da das Mädchen, es ist vier Jahre, freut sich über die neue Puppe und streichelt ihr über die Haare. Verstummt, starrt die an. Schreit auf und beißt ihr die Hand ab. (Warum? Was ich getan hätte? Was ich mit ihr angestellt hätte? Was wollen Sie fragen? Was wollen Sie damit sagen? Sie? Nehmen Sie sich in Acht. Raus hier! Raus!)