Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Kriminal Tango in acht Folgen

Autor:
Mechthild Curtius
 

Kriminal Tango in acht Folgen

7 Portonovo

Januar 2013

Arrivederci Acscoli Piceno. Die Stadt ist liegt im weiten Tal nahe der Tronto-Mündung in die Adria. Die Berge drum herum sind so hoch, dass man von jeder Straße aus, von jeder Piazza aus, in die Landschaft sehen kann. Und umgekehrt von den Höhenstraßen auf die Agrar-Metropole der Marken im Talkessel, den Schüsselrand hoch zieht sie sich in die Berge. Ab Ascoli sind die Flüchtenden, die nach dem Sohn Suchenden, Katharina und Herr Färber, abgefahren in Sonnenhelle, zuerst hoch zur Bergtafel San Marco, die scheint ein kurzsamtiges Tierfell von Weitem, der Bewuchs in Beige und Grün entpuppt sich von Nahem als dichtes, kurzes, struppiges Gras mit Kräutern.

Auf der Suche nach Sandros Versteck fahren sie durch immer flacher werdende Landschaft, die Hügel sind nicht so hoch wie in Umbrien, oft aufgereiht als Kette, fünf wald- und weinbewachsen, auf dem sechsten steht ein Dorf. Fast alles ist Ackerland, Hirse, Mais, Wein, vor allem Bohnen. Bohnen, wäre jedes Böhnchen ein Tönchen, hätte die Marche Ohrensausen verursacht. In  den Dörfern läuten die Glocken zu Sonntagsmessen, alle Kirchen sind offen, auch San Maria am Fiume Chienti, romanisch mit Alabasterfenstern, die Sonne schimmert wie durch Haut, Kirche mitten zwischen Hirsefeld und Gemeindefest, auf dem Mädchen mit weißen Schleifen und Jungens in weißen Hemden schaukeln und Männer Boccia spielen. Magisch angezogen beobachtet Katharina die Kinder, selbst ihre Dumpfheit lässt nach, ihr Interesse erwacht. Von Kopf zu Kopf hüpft ihr Blick, Lockenkopf im Braun der Esskastanien. Einer ist dabei, der Blick verharrt, sie geht drei Schritte näher; er ist es nicht. Er ist nicht Sandro. Aber irgendwo hier in der Nähe muss er sein. Vielleicht direkt am Meer. Also doch nach Ascoli Piceno Mare. Mehrere Ortschaften hier gibt es zweimal wie hier: Ascoli Piceno und Ascoli Piceno Mare: im Landinneren und am Adriatischen Meer. Das verwirrt die Ausländer.

Immer weiter nach Osten, bis hinter den Hügeln das Wasser blau blitzt. Das kann gar nicht schiefgehen. Sie erreichen das Fischerdorf Martinsecuro di Adria, wenige Fischer werkeln an kleinen Booten, wenige Badende sind in der Bucht. So wie hier werden sie es noch oft machen heute und morgen: Aussteigen, die Seebrise einatmen, die Arme ausbreiten, ah sagen und wieder hinein in das Auto. Die blöden Touristen spielen, die irgendwas suchen und radebrechend den Namen vom Zettel stammeln. Herr Färber macht das ohne viel Schauspielern mit seinem weychen Österreich-Italienisch und Katharina spielt, wenn es sein muss, zur Tarnung das lächelnde Weibchen. Die beiden fahren die Küste entlang, dicht am Wasser, bei San Benedetto del Tronto und höher die Adria lang wechselt kahler Strand mit einer Kette von Dörfern und Städten, links von der Straße ragen unmittelbar die Berge steil herab, manchmal mit hellbraunen Häusern, Bahngeleise, kleine Bahnhöfe mit Tunneln zum Mare. Ein Ausweichen gibt es bei den seltenen Tunnels hin zum Strand oder den Straßen ins Landinnere entlang den Flüssen.

Mittags sind sie in Pedaso an der Mündung des Fiume Asa, das winzige alte Nest besteht aus zwei Dutzend Häusern mit einem Albergo und einem dicht vergitterten Grundstück voller Palmen und Magnolienbäumen, über die hohen Wipfel ragen Schlosstürme. Sie parken davor an der Piazzale mit Brunnen, gehen zu Fuß durch die Unterführung an den sehr hellen Sandstrand. Zum Mare hin ist an die Viadukt-Mauer ein Büdchen angebaut, dahinter Kabinen und Toiletten, darum herum Palmentöpfe und Sonnenschirme. Darunter nur wenige Gäste. Eine junge Frau beugt sich über ein Kind, dass die Bauchfalten zwischen dem Bikinistoff wogen. Der Vater bläst ein Gummikrokodil auf. Zwei Tische weiter sitzt noch eine Familie mit einem nörgelnden Bengel. Herr Färber und Katharina machen Rast, essen Spaghetti Vongole und Seezunge mit Patate Frite, außer Fisch gibt es nichts. Wie nebenbei erkundigen sie sich nach dem kleinen Ort, dessen Namen Katharina auf dem Zettel las. Wenn die Francettis ihren Sohn dorthin gebracht haben, könnte es sein, dass es der hier am Nebentisch ist, der am Essen herummäkelt: "Die ekligen Tintenfische, ich mag sie nicht." Der Kleine wirft gabelweise die frittierten Tintenfischringe der Katze vor, die sie frisst. Manche fallen in den Sand, die Körner setzen sich im Fett fest, mit Sand panierte Calamari mag auch die Katze nicht. Der Junge dreht sich um und glotzt die Fremden stumpf an, Fischaugen aufgeblähte Nüstern und Wulstlippen. Es ist nicht Sandro.

Vom kleinen Ort Pedaso am Viadukt müssen die Reisenden, um die geschilderte Bucht zu erreichen, viele Umwege fahren. Erst einmal durch die Unterführung zurück auf die Straße und immer weiter die Bahnschienen lang, mit Stacheldraht abgesperrt, Zugang verboten, auch zum Meer. Zum Land hin ragen so dicht an der Küste wie sonst nirgends bisher die grünbewachsenen Berge, immer wieder münden die Flüsse, die quer vom Landinnern nach Osten in die Adria fließen, Tronto, Asa, Tenna, Chienti. Betoniert sind die Flussbetten, gestuft, und nur das kleinste Betonbett in der Mitte führt ein Rinnsal von Wasser.

Dem Wortschwall des Kellners konnten sie nur schwer folgen: Viele Ortsnamen gibt es eben gleich zweimal, Ascoli Piceno und Ascoli Mare, Recanati und Recanati Mare. Mit den kleinsten Orten ist es noch komplizierter, da wiederholen sich die Beinamen vier- oder fünfmal. So ähnlich wie in Hessen mit den Eingemeindungen muss das wohl sein.

Sie sollen sich noch mehrmals verirren; die Zickzackreise geht weiter. Still ist es, sie zucken zusammen, als drei Kerls mit Mopeds den Strand lang dröhnen. Die Boote eines ländlichen Clubs dümpeln im Wasser. Das Meer wechselt zwischen Blaugrau und Nilgrün. Sie sind gefahren und haben die aufgeschriebene Hütte gefunden. Leer und vernachlässigt, hier kann jahrelang niemand gewohnt haben, geschweige ein Kind. Hat sie Alfredo absichtlich falsch geführt oder hat ihn bereits Piero zum Narren gehalten oder wer sonst sein Informant war? Enttäuscht watet Katharina durch den Sand, minutenlang voller Angst, sie werden dich holen, recht geschieht dir, Mörderin. Abermals und tausendmal nein: ich gestehe auch nicht auf der Folter, was anderes ist das, nein, nicht jede Person kann Mörder und Mörderin sein! Dann wieder benommen wie nach einer Narkose, manchmal mit einem dumpfen Läuten im Hirn, dann wieder weicht es einer nie gekannten Klarsicht. Dann fällt alles Vergangene ab, und sie ist ganz in der Gegenwart, hier und jetzt, sieht und hört und riecht und spürt mehr als jemals zuvor, selbst als Kind. Große Gegenstände und kleine werden gleich wichtig: Ein roter Stoff im Sand fixiert den schweifenden Blick, sie streicht durch den feuchten Sand nahe heran. Dicht davor wird auch ein blauer Ringelstreif sichtbar, sie zieht das nasse Ding aus dem Sand, Kinderstrumpf. "Solch einen Strumpf hat Sandro, es ist seine Größe", schreit sie. Herr Färber kommt. "Solche Strümpfe hat Sandro gehabt", ergänzt sie. "Vielleicht war er doch hier." Sie umkreisen die verlassene Hütte, greifen durch eine zerbrochene Scheibe nach einem rostbraunen Heftchen und zerren es raus, ein bisschen schneidet sich Katharina am Handballen, so dass es blutet. "Leopardi poesi. Pittore Guido Erné Recanati". Sie finden auf dem ersten Blatt eine Widmung: für "amico Piero". Nix wie hin.

Nach Recanati. Wirklich? Ist doch nur ein Zufall. Piero heißen in Italien so viele wie bei uns Peter. Übersetzungen vom Heiligen Petrus sind beide Namen. Vielleicht hat Herr Färber recht, Katharinas Fantasie spielt verrückt, und das monotone Fahren reizt  sie noch mehr. Was in Ascoli zurückgeblieben ist, muss überlegt werden. Höchste Zeit. Zufall oder nicht? Spielt da jemand Schnitzeljagd mit mir? Hat jemand sogar den Spieß umgedreht? Werden wir Suchenden selber gesucht? Was kann passiert sein? Die unerwartete Festnahme des Vaters muss alle Pläne der Familie mit dem Kind Sandro umgeworfen haben. Piero ist festgenommen, was hat er bei der Vernehmung gesagt? Seine Lage wird er durch die Information der Entführung des Sohnes Sandro bestimmt nicht noch schlimmer machen.

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