MASCHA KALEKO

Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden und ein großer M. K.-Abend im NDR

Autor:
Andreas Greve
 

Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden und ein großer M. K.-Abend im NDR

EIN KIND VON TRAURIGKEIT

Ziemlich am Anfang dieses Bandes das Gedicht „Autobiographische“ von 1958: „Die sogenannte Goldne Kinderzeit, / Nach der so viele von uns Heimweh haben. / Hat mein Gedächtnis abgrundtief vergraben / und so von manchem Alpdruck mich befreit…“ Ein paar Seiten weiter das „Rezept“, eines von insgesamt drei veröffentlichten reimlosen Gedichten:

Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre wird alles noch reichen.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Geschrieben 1966, zwei Jahre vor dem Tod ihres geliebten und begabten Sohnes 1968.

Und dann, fünf Jahre später, im Dezember 1973, verliert sie ihren Mann Chemjo Vinaver. Über der Todesanzeige ihr lyrisches „Memento“ (1956 erstmals veröffentlicht / s. Bd. 4)

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Und an anderer Stelle: „Denn der Tod tut nicht weh, nur das Sterben“. Auch das findet sich in dem Büchlein „Mein Lied geht weiter“, genauso wie „Nachts“, dessen zweite Strophe lautet

Noch war das Sterben mir so fremd.
Das war, als es begann.
Doch, schläft man oft im Totenhemd,
Gewöhnt man sich daran.

Das ist dann schon fast wieder der Tonfall des Anfangs. Sie starb nur zwei Jahre später. Am Ende, aber eigentlich schon seit dem Tod ihres Sohnes, war sie ein gebrochener Mensch.

Mascha Kaléko  Fotograf: Heiko Sehrsam
Präsentierten im Rolf-Liebermann-Studio das Gesamtwerk Mascha Kalékos: Rainer Moritz und Maria Schrader. Fotograf: Heiko Sehrsam

Ich kann nicht erinnern, welche Gedichte die geschätzte Schauspielerin Maria Schrader bei dieser Aufzeichnung vorlas. Sehr genau aber habe ich noch im Ohr, wie unglaublich viel im Publikum geräuspert und gehustet wurde. Ich hatte zeitweise den Eindruck, einige wären extra zum Husten gekommen. Aber es muss sowieso geschnitten werden, schon wegen der Zeit und der wenigen Haspler Maria Schraders (Gleich nochmal neu ansetzen und weiter!). Neben Gisela Zoch-Westphal saß die Herausgeberin, Jutta Rosenkranz, die sich dieses irrwitzige Mammutprojekt nicht nur vorgenommen, sondern es auch – wenn auch mit einigen Jahren Verspätung – zum Abschluss gebracht hat.
Einige der überwiegend weiblichen Zuhörerinnen kauften sich die vier Bände, broschiert oder in Leinen, gleich auf der Stelle am Büchertisch der Buchhandlung Samtleben im Foyer. Ich lieh sie mir Wochen später – als Erstleser! – in der Zentralbücherei. Ein paar Kilo, verteilt auf den Text-Band, die zwei Briefbände und den Schlussstein Kommentar: Die Quellen, die Stellen hinterm Komma und die Danksagung, die alleine über vier oder fünf Seiten (!) läuft und nicht nur unendlich viele Namen aufzählt, sondern auch einen gewissen Hinweis darauf liefert, dass die Herausgeberin doch wohl etliches viel zu genau genommen hat und viel zu gründlich betreibt. Fremdwörter, die eigentlich jedem geläufig sein sollten, werden als Fußnote übersetzt, aber dafür Titel der Gedichtbände im Anhang grundsätzlich abkürzt: Tr = „In meinen Träumen läutet es Sturm“ oder PA: „Das himmelgraue Poesiealbum“ – wie uncharmant ist das denn! Und wie unpraktisch für den Gelegenheitsleser! (Auf wen das auch immer zurückgeht.) Außerdem: Vier mal 1000 Seiten wollen bewegt werden, da gerät das Herumgeschnuppere leicht zur Gymnastik. Nein, ich glaube, dieses Standardwerk gehört wirklich in die Bibliothek. Also an Orte, wo es für viele zugänglich ist und wo geistiges Erbe zu stehen hat. Dadurch wird Mascha Kalèko ihren Platz bekommen und behalten. Wie der - für mich oft letztinstanzliche - Alfred Polgar schon schrieb: Was für ein „zärtlich-weiblicher Rhythmus voller Melancholie, Ironie und politischer Schärfe.“

Ich glaube, die 198.- Euro für die gebundene Ausgabe wären für Amateure falsch angelegt. Vielleicht entschließt sich der Verlag ja irgendwann einmal, den ersten Band in zweimal 500 Seiten zu teilen und so die gesammelten Gedichte Mascha Kalèkos in einer Volksausgabe dennoch zusammen erscheinen zu lassen. Bis dahin komme ich mit den „Hundert Gedichten / Mein Lied geht weiter“ für 5,90 Euro und den „paar leuchtenden Jahren“, in denen sich auch Biographisches findet, für 9,90 Euro gut aus. Sogar auf „Das lyrische Stenogrammheft“ (rororo) könnte ich solange verzichten, zumal mir einige von diesen allerersten Versen nach einer gewissen Zeit, ehrlich gestanden, dann fast schon zu „leicht“ vorkamen. Aber die beiden erwähnten dtv- Taschenbücher sollte man sich auf jeden Fall kaufen – so viel Respekt schuldet man dieser bedeutenden deutschen weiblichen Dichterin doch wohl.

Demnächst dann noch ergänzt und abgerundet durch die Wortbeiträge in der Sendung „Sonntagsstudio“ auf NDR Kultur am 17. Februar von 20:05 bis 21:30 Uhr.


Mascha Kalèko – Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden – Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz – Originalausgabe – Mit Abbildungen – 3.752 Seiten – Broschur – 78.-€  dtv München 2012

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