rettungsversuche der literatur im digitalen raum

Essay

Autor:
Holger Benkel
 

Essay

Papierwohnungen

bei walter benjamin, einem erkunder der labyrinthe, heißt es einmal, kindern seien wörter wie höhlen, zwischen denen sie seltsame verbindungswege kennen. spuren der sprache folgend läßt weigoni wortwurzeln anklingen und die wörter, als erspürer und erdenker ihrer genesis und helfer bei ihrer geburt, oder wiedergeburt, aus sich selbst wachsen. die wortbildungen der frühen sprachen bezogen sich meist auf sinnlich konkrete eigenschaften, merkmale und erscheinungen der bezeichneten dinge, wovon die bildhaftigkeit der sprache bis heute lebt. wer die ursprünge der sprache versteht, kommt der poesie schon nahe, die ebenfalls aus bildhaftem und assoziativem wahrnehmen wächst, das klang und sinn zusammenfügt. man findet so sinnliche versprachlichung und sprachliche versinnlichung, »Klang-Rede« und »Wort-Laut« (´VerDichtung`). worte wie »Kipppunkt« (´ML I-III` in ´Dichterloh`) oder »artIQlation« (´UEberkommen` in ´Letternmusik`) entstehen gleichermaßen durch spiel und analyse. selbst laute lassen derart sinn anklingen.

der eigene anspruch ist hoch: »Gedichte sind freie Zeichen, die auf keinen schon fertigen Code bezogen werden können, sondern die ihre Leser zum Entwerfen neuer Zeichensysteme herausfordern. Aus dieser Sicht verkörpert jedes Gedicht durch seine spezifisch ausdifferenzierte Gestalt eine multiple und komplexe Bedeutung, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern die es im Prozess einer ästhetischen Reflexion erst und immer wieder frisch zu ergründen gilt. Die ästhetische Qualität eines Gedichts erweist sich darin, ob sich seine Gestalt bis in die Details hinein durch diesen vom Betrachter auszulotenden semantischen Gehalt erklären lässt; ist das nicht der Fall, hätten wir es mit einem Zeugnis bloßer künstlerischer Willkür zu tun.« (´VerDichtung`). tatsächlich ist die genauigkeit, mit der weigoni, dem das präzise denken spürbar freude bereitet, worte in ihren nuancierten bedeutungen erkundet, erstaunlich. wenn er sprache demontiert und dekonstruiert sowie neu montiert und neu konstruiert, »aus dem Wortwerk wird ein Wortbruch« (´Wesenheiten` in ´Dichterloh`), hinterfragt er zugleich ihre strukturen und kodierungen. und wir brauchen die genaue sprache, gerade weil unsere gedanken immer nur vorübergehende erkenntnisse enthalten, die wir wieder überwinden müssen. indem er permanent über antriebe und techniken seines schreibens, denkens und empfindens nachdenkt und in gedichten eine intellektuelle reflexivität erreicht, die man sonst eher in essays findet, ist er, als wissender autor, oft selbst der beste kommentator seiner texte. »Essayist ist man, weil man ein Kopfmensch ist.« schrieb roland barthes (´Die Körnung der Stimme`)

»Inhärentes Programm aller Dichtung ist es, die Sprache, die uns von der Welt trennt, durchlässig zu machen ... die produktiven Vielheiten unserer Umwelt zu erzählen, erfahrbar und mitteilbar zu machen, eben: Bewusstsein also Realitäten mit Kommunikationen zu verunreinigen – das ist die Aufgabe und die Möglichkeit zeitgenössischer Literatur.« schreibt weigoni im brief. er will bedeutungen sichtbar werden lassen, ohne sie durch allzu große eindeutigkeit zu vergröbern. dies heißt auch, das vorgefertigte und verfestigte der sprache, deren verschiedene bewußtseinsinhalte potentiell stets gleichzeitig verfügbar sind, analytisch und sprachgestalterisch zum mehrdimensionalen verständnis hin aufzubrechen, damit entwicklung möglich wird und die wörter veränderungen der menschen und ihrer wirklichkeiten nicht nur entsprechen, sondern ihnen vorausgehn können. und das verlangt, das denken und erkennen selbst und damit geistige und intellektuelle prozesse und techniken zu reflektieren und zu hinterfragen, bis hinein in die strukturen der gegenstände und wahrnehmungen.

es gibt nie nur eine wahrheit, sondern immer verschiedene wahrheiten, die nebeneinander, oder auch gegeneinander, berechtigung haben. egon friedell schrieb in seiner ´Kulturgeschichte der Neuzeit`: »Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten "Wahrheit", daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan oder Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten verkünden zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.« eben dieses dritte wäre aber wichtig. »was wahrhaft tief geht / liegt gut vergraben.« heißt es in ´Vage Vermutung` (´Letternmusik`), »gerade in der fernsten Fremde spricht / uns das Vertraute an.« in ´Weite Ferne ... unendlich nah` (´Dichterloh`). letzteres variiert die annahme walter benjamins, die aura sei die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.

der autor folgt einem dynamischen denkprinzip, das ihn befähigt, sich stets von neuem mit den details der eigenen wahrnehmung zu beschäftigen, unter anderem indem er lineares denken sprachlich hinterfragt und aufhebt. der leser oder hörer findet bei ihm den stachel, der zur erkenntnis antreibt, und die relativierende und bergende denkhaltung. viele gedanken haben aphoristische schärfe. doch indem er vieles durchschaut und empört, aufbrausend, sarkastisch darauf reagieren kann, weiß er auch, wie man gütig handelt. humanität und skepsis bedingen einander. seine skepsis ist die andere seite seines idealistischen anspruchs. und vor allen idealisten steht, sofern sie nicht früh zugrunde gehen, die frage, ob sie ihren heißen utopischen kern abkühlen können, ohne ihn aufzulösen und selber zu erkalten.

die literarischen techniken seiner texte, die unterwanderungen und verfremdungen vorgeprägter sprache, die ironischen untertöne, die aphoristischen sentenzen, die filmischen momentaufnahmen, dienen auch einem reflexiv vom intellekt gelenkten und dabei häufig paradoxen und persiflierenden spiel. wenn weigoni postulaten, die ihm abstrakt erscheinen, ob mythen, utopien oder moralvorgaben, mißtraut, zugleich aber den mangel an ideell gelebtem in vorgefundener wirklichkeit konstatiert, verweist er auf ein grundproblem postmoderner intellektualität. sarkasmus und ironie sind so auch refugien gegen eine totale ernüchterung, obwohl, oder weil, viele stellen dem analytisch genauen blick eines heiner müller, ernst jünger, paul virilio oder jean baudrillard nahe kommen.

weigoni mißtraut jedem systemdenken, schreibt von der »Totenstarre des Determinismus« (´ML I – III` in ´Dichterloh`) und »Gletschern der Abstraktion« (´Bewegungsprofil` in ´Dichterloh`) und versucht die worte zu befreien, indem er sie aus ihren begrifflichen prägungen herauslöst. »die spröde Spreu / vom Weizen / der Sprache / trennen« postuliert das gedicht ´Phrasendreschpflegel` in ´Letternmusik`. »Die Worte ruinieren, was man denkt.« meinte thomas bernhard. in begriffen degeneriert die substanz. und keine einzige aussage, ja kein einziges wort, ist unter allen umständen gültig oder gar allgemeingültig.

eine skeptisch-reflexive denkhaltung bewahrt vor illusionen, auch denen eines allzu sehr der vorgefundenen wirklichkeit angepaßten und verpflichteten realismus oder pragmatismus. günther anders schrieb schon vor jahrzehnten: »Wer heute einen Weltausschnitt so wiedergibt, wie er sich der Wahrnehmung bietet, also "realistisch", der flieht, da das Wahrnehmungsbild mit dem bildlosen Bild unserer heutigen horizontlosen Welt nichts mehr zu tun hat, in einen Elfenbeinturm, auch wenn er diesen Turm mit der Portalaufschrift "Wirklichkeit" tarnt.« »Kein Ding ist so, wie es aussieht.« wußte hugo ball, der die befreiung der dinge von ihren erscheinungen forderte.

indem sprachanalyse und sprachklang, philosophieren und musikalität spielerisch verbunden werden, kommt zum ernst die leichtigkeit und unterwandert so realitäten, wo sie nicht übersteigbar sind. »Wo gespielt wird, kann logisch (oder zeichentheoretisch) die Wirklichkeit nicht sein. Das wussten schon die alten Griechen: die Darstellung des Ritus ist Literatur – kein Ritus mehr.« (briefzitat weigoni). die spielerische aneignung, reflexion und nutzung von medienundkommunikationstechniken, die man in weigonis texten findet, ist nicht zuletzt, über die literatur hinaus, deshalb sinnvoll, weil sie angeborene gaben des menschen nutzt, der spielerisch lernt. die gesellschaftsverändernden wirkungen einer spielerischen kultur verlangen freilich sehr viel geduld.

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