rettungsversuche der literatur im digitalen raum

Essay

Autor:
Holger Benkel
 

Essay

Papierwohnungen

die stimme sei der »Fingerabdruck des / Charakters« heißt es im gedicht ´Leerstelle` in ´Dichterloh`. der autor vermittelt texte, die man eigentlich vor augen haben und mehrfach lesen muß, um ihre sprachlichen nuancierungen und assoziativen anklänge sowie fließenden übergänge und brüche wahrzunehmen, mit einer stimme, die ähnlich verfremdet und kommentiert wie das geschriebene wort. »Vorgetragene Poesie strebt danach, die vermeintlich klare Form der Sprache aufzulösen und über die Ränder des Verstehbaren zu treiben.« (briefzitat weigoni). indem er die gedichte sprechend als in musik verwandelte sprache interpretiert und gestaltet, verbindet er wieder, was bei den dichtern der alten kulturen, ob skalden oder veden, natürlicherweise zusammengehörte.

auf die musikalität der zugleich sprachanalytischen texte, und damit das kunstvolle der andeutungsreichen sprache weigonis, sei überhaupt hingewiesen. dynamisches sprachspiel und konzentrierte analyse ergänzen sich hier, ja gehen auseinander hervor. die sprache fließt durch präzision, klarheit und konzentration. der zeilenbruch schafft zugleich brüche und fließende übergänge, so daß bruch, stauung und fluß verschmelzen. zeitgeistgeprägten leseundhörgewohnheiten, die von sich immer mehr beschleunigenden, und dabei nur selten innehaltenden oder gar vertiefenden, oberflächeneindrücken bestimmt sind, ist dies freilich etwas sehr fremdes. wer hingegen keinen trends des zeitgeistes folgt, kann nebenflüsse schaffen, mäanderströme der kultur. manche gedichte formulieren die sehnsucht des gehetzten ich nach kontemplativer bergung gegenüber einer vitalistisch durchorganisierten welt. musik, die metaphysische tiefe und technische perfektion zu verbinden vermag, erscheint in diesem zusammenhang als alternative zur reinen technologie. denn »die Musik des / Lebens kommt aus / der Stille.« (´MiliMeta/Ebenen` in ´Letternmusik`). bei thomas bernhard findet sich der gedanke, daß das gehör das philosophischste aller sinnesorgane sei.

weigonis texte sind ernst jandl und mauricio kagel nahe gerückt worden. manches verbindet ihn auch mit ror wolf, so die sprache als akteur und die hinterfragung und behandlung sprachlicher produkte als eigentlicher inhalt der literatur, die deformation und neuformation vorgefundener sprachformen und sprachinhalte, die reflexive und ironische distanz dem material gegenüber, montagetechniken, die hinwendung zur hörbaren literatur, bis hin zum akustisch experimentellen, eine jazzähnliche sprachliche improvisation, die thematisierung medialer wirkungen, einflüsse der filmkunst, die einbeziehung des profanen, populären, genrehaften und trivialen, ohne daß damit vordergründig populäre leseroderhörererwartungen bedient werden. auch korrespondenzen zu ernst jandl, franz mon, ferdinand kriwet, hans g. helms oder elfriede jelinek lassen sich finden.

literatur und letter gehören zusammen. der autor, der von »Papierwohnungen« weiß, (´Bannkreis` in ´Letternmusik`), fühlt sich unverändert mit dem buchdruck verbunden. man lese, wie er über die verletzbarkeit des papiers, der haut der gedruckten schrift, spricht, das die sprache bei veröffentlichungen trägt und ihn mit andern menschen, ja dem menschlichen überhaupt, verbindet: »Zwischen Mensch und Papier gibt es eine Intimität, eine geradezu körperliche Affinität. Papier ist dem Menschen ähnlich. Es ist schwach und altert. Der kleinste Unfall, und es reißt. Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, die der unsrigen nahekommt. Das Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt.« (´VerDichtung`). laut chinesischer überlieferung wurde papier von menschen erstmals im jahr 105 hergestellt.

»Eine virtuelle Realität ist meiner Anschauung nach nur dann sinnvoll, wenn sie eine andere Art der Sinnlichkeit ermöglicht.« schreibt weigoni in ´VerDichtung`. als die tiefsten und intensivsten texte und passagen empfinde ich jene, in denen sich, »auf / dem Weg vom Logos zum Eros.« (´Vignetten` in ´Dichterloh`), auch vom »Logos des Fleisches« (´An der Demarkationslinie der Sprache` in ´Dichterloh`) ist die rede, intellekt und sinnlichkeit, reflexionen und metaphern verbinden und miteinander verschmelzen. indem der autor körperliches erleben beschreibt und reflektiert, entdeckt er dessen teils verborgenen ausdruck in der sprache. umgekehrt werden sprachkörper, »lustlesewandelnd« (´RAPSOdie` in ´Letternmusik`), erotisiert. besonders in ´Letternmusik` und ´Dichterloh` sind, und zwar gerade obwohl die wahrnehmung mehr vom kopf her geschieht und der körper auch als lebendes material betrachtet wird, geistig sinnliche symbiosen von großer intensität und tiefe zu finden, mit denen der reflektierende intellekt sinnliche bedeutungen der worte freilegt.

»Da der Mensch nicht mehr Natur ist, sollte er wenigstens in seiner Sprache so natürlich, so aufrichtig wie möglich sein, und eine gegenwärtige Sprache finden, die sich öffnet für das Mysterium der Dinge.« (´VerDichtung`). die dem griechischen philosophen longinus zugeschriebene schrift ´Über das Erhabene`, die noch im 18. jahrhundert nachwirkte, postulierte die einheit aus natur und kunst: »Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschliesst.« heute fragen wir uns, ob »ein reines Schauen ... ohne kuenstlichen Zauber« (´Poeten der Tatsachen` in ´Dichterloh`) überhaupt möglich sei. wirkliche naturlyrik gibt es sowieso kaum noch, zumindest in europa, sondern allenfalls kulturnaturlyrik. naturmetaphern beschreiben fast immer bereits menschlich angepflanzte, bearbeitete, produzierte und beeinflußte kulturnatur. natursymbole gleichen also mehr forstbäumen als waldbäumen. wir sind umstellt von naturattrappenundprothesen. der intellekt hat die seelen der menschen gepflastert wie der asphalt die erde der städte. dabei wurzelt symbolik, zumindest ursprünglich, ganz erheblich in der naturbeobachtung, auf die man ganze mythenkomplexe zurückführen kann.

ernst jünger schrieb über die menschen des altertums: »Im Mythos finden wir die Spuren eines Schmerzes, der sich an ihren Abschied von den Höhlen, den Wäldern, den stillen Strömen knüpft. Er gleicht dem unseren. Wie ein Echo davon kommt in der Spätantike das Gerücht vom Tode des großen Pan auf. Von dieser Trauer, die dem Verlust des Erd- und Naturgeistes gilt, ist auch Guèrins "Le Centaure" durchtränkt. Sie, und nicht die Sehnsucht nach im historischen Sinne abgelebten Zeiten, bildet den Kern der romantischen Philosophie. Auch gibt es keine Lyrik ohne diese Mnemosyne.« so gesehen bewahren natursymbole verlorene natur, oder zumindest die erinnerung daran, und bergen sie. »daß ein großer Teil aller Natur-Lyrik, besonders der Romantik, zu den Ausdrucksformen des Archetyps der Großen Mutter gehört.« erklärte der psychoanalytiker erich neumann. »und kommen ihnen zärtliche Regungen, so meinen die Dichter immer, die Natur selber sei in sie verliebt.« sagt nietzsches zarathustra.

aufgrund der immer rasanter werdenden geschwindigkeit der technologischen prozesse brauchen wir mehr als zuvor die fähigkeit der geistigen vorwegnahme, zur voraussicht möglicher gefahren und zum entwickeln alternativer lösungsvarianten. bereits darstellungen der höhlenmalerei zeigen götter, die in wagen fahren. erst jahrtausende später sind die menschen so gefahren. schon leonardo da vinci hatte ein u-boot konstruiert. mondflüge geisterten jahrhunderte vor der realen raumfahrt durch die literatur. die phantasie ging also vielfach der technischen machbarkeit voraus. inzwischen hat sich das verhältnis umgekehrt und die geistig-ideellen prozesse bleiben hinterm tempo der technologischen zurück, wodurch letztere unter umständen unkalkulierbare wirkungen produzieren können.

in einem gedicht aus ´Letternmusik` heißt es: »Meine Generation ist daran gescheitert / das Physische mit dem Intellektuellen zu verbinden.« »Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.« schrieb ossip mandelstam. viele der texte weigonis beschreiben und reflektieren das spannungsfeld zwischen sinnlichkeit und technik sowie die zunehmende technisierung der sinnlichen wahrnehmung, die neue möglichkeiten menschlichen erlebens erschließt und zugleich verwerfungen verursacht. »Der Mensch, losgekettet von Religion und Humanismus, ist sein eigenes Produkt geworden, der Körper seine einzige Utopie. Nicht dem Sonnenstaat, sondern dem Astralkörper gilt die Sehnsucht; nicht Gedanken schaffen eine neue Welt, sondern Pharmazie und Chirurgie einen fortwährend sich erneuernden, in der Erneuerung sich zerstörenden Leib.« (´VerDichtung`). vielleicht ist die künstlichkeit der medienwelten nur der modische vorbote, die triviale ouvertüre, zur herstellung eines künstlichen menschen. wozu braucht man noch natürliche natur, denken heute schon viele, wenn man sie im zeitalter ihrer technischen reproduzierbarkeit als künstliche kaufen kann. womöglich stehen wir vor einem urknall der technologien, den kulturelle phänomene bloß einleiten und begleiten und der alle bisherige natur hinter sich zurückläßt.