Kriminal Tango in acht Folgen
8 Heimreise
Februar 2013
Das Kind sitzt jetzt aufrecht auf dem Rücksitz und juckt sich die rötlichen rauhen Arme. "Bist du wieder gesund? Die Nonna hat gesagt, dass du krank bist. Schön, dass du wieder bei mir bist. Spielen mit Marietta und Giuliano und Lisabetta und Guido ist ganz schön, aber das doofe Essen, immer die ekligen Spinnen." - "Was? Spinnen hast du gegessen? Du spinnst wohl!" - "So groß!" Er zeigt zweimal seine Handlänge. - "Die schmecken wie Fisch, aber knacken so zwischen den Zähnen, wie wenn Kater Willi eine Mücke zerbeißt. Am ekligsten sind die mit schwarzer Soße wie aus Schuhcreme." - "Dein Sohn meint Tintenfische, Calamari. In ihrer eigenen Tinte. Specialita." - "Ja, das kann stimmen. Er hat eine Fischallergie. Darum juckt er sich immer die Arme." - "Schlaf, Bübchen, schlaf." Frederick ist es unbehaglich mit dem plappernden Jungen, der ihn für seinen Leipziger Großvater hält. "Nnnneinnn. Isch bin wach. Isch will alles sehen! Mamma, gel? Mamma, bleibst du jetzt immer da? Jetzt bist du da, und der Pappa ist weg. Ist der jetzt krank?" - "Der wird schon wieder gesund."
Nun windet sich auch Katharina, um Antwort verlegen, 0 dieser Kindermund. Herr Färber konzentriert sich aufs Fahren und die Straßenschilder, bemerkt den Namen Loreto, Herr Färber weiß Rat: "Dann bitte doch die tintenschwarze schuhcremeschwarze Madonna von Loreto um Segen, du, Katharina, so von Mutter zu Mutter. Na, wie schön, da lachst du ja direkt wieder." - Frederick Färber weist auf das Schild via Loreto und versucht, die Omnibusse aus Roma und Cosenza zu überholen. Mit Wimpeln und Plastikblumen in den weißgoldenen päpstlichen Farben sind die Busse geschmückt, Kirchenlieder zu Ehren der Madonna schallen aus den offenen Fenstern. Da hupt den Fahrer des Grazer Autos auch schon ein Grazer Busfahrer an. Marienlieder singen mit ziehenden Tönen meist weibliche Stimmen: "Mutter Gottes, wir rufen zu dir". - "Meerstern ich dich grüße". Frauenköpfe schauen hinunter zu ihnen, manche Hände winken.
Fredericks spöttischer Vorschlag war gar nicht so blöd. Sollten die Francettis doch das Auto verfolgen, im Santa Casa, dem Heiligen Haus des Wallfahrtsortes Loreto würden sie die Atheistin aus dem Osten Deutschlands gewiss nicht vermuten. Und unter Tausenden kann man sich bekanntlich am besten unsichtbar machen, eingehen in die Masse. Herr Färber erklärt Katharina das nie gesehene Schauspiel katholischen Wunderglaubens. Von Lourdes hatte sie auch in der DDR samt den üblichen Sprüchen über 'den papistischen Imperialismus' gehört. Älter, viel altehrwürdiger sei das mittel-italienische Loreto, doziert Herr Färber. Nach der Wunder-Legende sei das kleine Ziegelhaus der Heiligen Familie aus Bethlehem von Engeln nach Loreto versetzt worden. Die Ziegeln seien laut Analyse identisch mit denen der Häuser Jerusalems. Er deutet auf die Wände, die den Scheunen der Landgüter ähneln. "Ei gucke, Mamma, ein Hexenhäuschen!" Das 'Reliquien-Objekt' steht mitten im großen Dom. Gebete-Murmeln, Rosenkranzreiben - das Herz des Bethauses spürten sie vom Portal an und folgten den anderen in das Heilige Haus: die Madonna hat Glutaugen im Kerzenrauch, sie schimmern im dunklen Gesicht, ummantelt von starrer Silberpyramide. Krankenschwestern in blauen und weißen Hauben schieben Gebrechliche in Rollstühlen, dem Wunderpilgerheer voran rollen sie die Bahre mit einer mumiengleichen Greisin, die verzückt schaut wie ins Ewige Leben. Glaubens-Tourismus, bussevoll kommen sie, aus Lautsprechern schallen Hinweise in fremden Sprachen, Doppeldecker aus allen möglichen europäischen Ländern, viel mehr schwarzgekleidete Frauen als Männer, aber auch junge Leute, ein Pärchen im 'Partnerlook' mit pink-rosa Rucksäcken auf grellgrünen Satin-Anoraks schleppt einen Dackel mit weißem Verband um die Pfote im Plastiksack mit. "Ich will Kater Willi. Der soll auch gesund werden." Ruft Sandro in die summende Stille hinein, hier, wo sonst jeder flüstert. Sie laufen erst schnell und dann langsam zwischen das entrückte Gemurmel im Kirchendunst, wallen stille heraus und hurtiger durch die Straßen, vorbei an Cafés mit Torten und Heiligen aus Marzipan, mit Devotionalienläden voller Statuen aus Kunststoff, Pappe, Blech, Keramik, Marmor. Edelstein und Pappmaché, Plaste Elaste, Katzengold und Silber, neben Papst Johannes dem Dreiundzwanzigsten und der Madonna von Loreto auch Barbie, Schlümpfe, Mickymäuse. Und Sandro will natürlich alles Mögliche haben. Hunger hat er vor allem. Und endlich bekommt er keinen Fisch. Dafür Kuchen, viel Kuchen. Mit Kakao und die Großen mit Espresso Doppio, auch viel. Alle haben Aufmunterung nötig.
"Ihre Waren lassen die sich hier ja mit Blattgold aufwiegen." Katharina staunt. "Ein Tourismuszweig wie jeder andere auch ist das Glaubens-Gewerbe für die Hiesigen", erklärt Frederick Färber. Ein blühender Zweig. Blühend wie die mit ihren violetten Blüten tüten übersäten Bougainvillea-Bäumchen im Hof, links und rechts von der weiten Sicht über die Marken. Loreto liegt seit alters her verkehrsgünstig zwischen Abruzzen-Ausläufern und Adriatischem Meer, und selbstverständlich verbinden viele der gesünderen Wunder-Reisenden mit dem Besuch bei der Madonna einen oder mehrere Tage Badeurlaub an der Adria. Das ist eine für viele Katholiken eine italienische Tradition.