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IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 003). Zu Gast: Tristan Marquardt

März 2013

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

 

Tristan Marquardt, 1987 in Göttingen geboren, zählt zu den Gründungsmitgliedern Berliner Lyrikzirkels G13 und ist seit 2009 mit dessen Geschicken verbunden – dass das eine fruchtbare Angelegenheit ist, lässt sich etwa in der Anthologie „40 % paradies“, 2012 bei luxbooks erschienen, nachlesen. 2011 war er Finalist beim 19. open mike, 2012 beim 20. open mike. In München, wo er inzwischen ansässig ist, agiert er hingegen als Gastgeber und veranstaltet die Lesereihe meine drei lyrischen ichs. Dieser Tage erscheint sein erster Gedichtband das amortisiert sich nicht bei kookbooks.

Zur Beziehung von Stil und Inhalt liegen mir in Ihrem Falle zwei Fragen zugleich auf der Zunge, darum möchte ich sie auch zugleich stellen: Wie gestalten sich Gewichtung und Einschätzung von Stil und Inhalt in Ihrem eigenen Schreiben und wie in den Diskussionen des Lyrikzirkels G13? Überwiegen Wechselwirkungen oder Unterschiede in diesen beiden Konfrontationen mit lyrischen Texten?

Eigentlich lassen sich beide Fragen gemeinsam beantworten. Ich beginne einmal mit unserer Verfahrensweise bei G13. Wir treffen uns in offener Kombination. Die neuen Texte werden zunächst von der Autorin oder vom Autor vorgetragen, dann auf Papier verteilt, und dann erneut von einer anderen Person vorgelesen. Dann folgt eine Diskussion, bei der der oder die Verfasser/in nicht mitdiskutieren dar. Sie soll einerseits natürlich so offen wie möglich sein, braucht aber andererseits Kriterien, um sich zu bewegen. Das Problem ist es, subjektive Kriterien und Geschmacksfragen von objektivierbaren Kriterien zu trennen – letztere bauen auf Konsequenz auf. Als ein gangbarer Weg hat sich da relativ bald herausgestellt, die Korrespondenz zwischen der Sprache, die benutzt wird, und dem Inhalt, der bearbeitet wird, zu besprechen, eine Korrespondenz zwischen der Form und dem Gegenstand. Im Hinblick auf diese Korrespondenzen bin ich durchaus ein Fanatiker. Was sich also schließlich als wichtige Fragestellung herauskristallisiert hat, ist: Welchen Anspruch stellt der Text an sich selbst? Wo ordnet er sich ein, was sind Sprechweisen und Formen, die anzitiert werden, und wird er denen gerecht? Kann man da immanent Widersprüche feststellen, und wenn ja, sind sie produktiv oder nicht? Das ist in der Lyrik für mich eines der größten Probleme: Ich lese oder höre zum Beispiel immer wieder Texte von neuen Autoren, die „lyrisieren“. Da wird ein bestimmter hoher Ton angepeilt, ein für besonders lyrisch befundenes Vokabular fließt ein: der natürlich eingekaufte Pathoseinschlag. Exemplarisch sind hier Texte, die aktuell und persönlich sein wollen, aber eine Sprache bedienen, die unpersönlicher und angestaubter nicht sein könnte, weil sie ein großes Zitat darstellt. Das ist für mich auch vor allem deshalb ein so wichtiges Thema, weil ich selbst lange genau diesem Widerspruch verfallen war, bevor wir G13 gegründet haben. Es hat die Begegnungen mit anderen Lyrikern, ein deutlicheres Gespräch mit härterer Kritik gebraucht, bis ich bemerkt habe, dass der Stil, in dem ich schrieb, ganz klare Ursachen hat. Ich hab es am Anfang so gemacht, wie es wohl keine seltene Sache ist: Ich schrieb in Momenten, die ich als inspirativ begriff, sehr schnell und ohne zu überarbeiten. Das klang dann, wie man mir später sagte, nach einem merkwürdigen Mischwarenladen aus Hölderlin, Rilke und George. Da fehlte die Konsequenz, die Verarbeitung, der Inhalt zu diesen Wörtern: Es war eben nur der Stil und entsprechend oberflächlich.

Waren Hölderlin, Rilke und George auch einschlägige Leseerfahrungen und verantwortlich dafür, was überhaupt Lyrik in Ihrem Kopf war?

Unbedingt, diese drei hatte ich intus. Durch die Kritik und das Konzept der Konsequenz kam überhaupt erst diese ganze Gedankenwelt auf – was ist eigentlich der Zusammenhang zwischen der Sprache, die ich wähle, und dem, was ich schreiben möchte? Wird das, was ich sagen möchte und schreiben kann, nicht vielleicht eingeengt durch diese so andere Sprache? Und dann verschob sich mein Lyrikbegriff. Das kam im Gespräch mit Leuten, die viel schreiben, und der Lektüre von Texten, die außerhalb der gerade erwähnten Trinität lagen.

Würden Sie auch sagen, dass das Einzugsgebiet dieser seltsamen (meist schon im Gymnasium fertig gebauten) Übereinkunft, was Lyrik sei, momentan kaum mehr als das 19. Jahrhundert ist?

Prinzipiell ja, mit Rilke als spätestem Ausläufer. Aber der Horizont weitet sich natürlich automatisch, je länger man das macht. Ich glaube nicht, dass es gute Literatinnen und Literaten gibt, die wenig lesen, das halte ich für abwegig. Allein schon aus dem Interesse an der Sache heraus. Wenn mich etwas so beschäftigt, dass ich einen Text darüber schreibe, dann interessiert es mich doch auch, wie andere Menschen das machen.

Gerade das ist ja auch stilistisch ungeheuer aufschlussreich, was alles in welcher Vielfalt sagbar ist.

Da darf man sich auch einfach selbst nicht zu viel zutrauen. Es gibt ganz viele Dinge, die man von selbst nicht weiß und die erst mit dem Lesen kommen. Aber noch einmal zur Konsequenz. Meiner Meinung nach geht es darum, ob das Verhältnis von Form und Inhalt produktiv ist. Ich habe einen ganz performativen Sinnbegriff, Sinn stellt sich ein zwischen Text und Leser, in Bezug auf Textwelt und Leserwelt. Es ist Humbug, zu behaupten, es gäbe eine Autonomie der Textwelt, in der sie ihren eigenen Sinn konservieren könnte. So spielen sich dann auch die Strukturangebote und Irritationsmomente von Gedichten ab und werden kritisierbar. Wenn, beispielweise, ein Text einen hochgradig jugendsprachlich inspirierten Duktus fährt, aber der Inhalt den Erwartungen und der Welt dieses Stils nicht gerecht wird, dann öffnet sich eine Schere. Wenn das produktiv ist, wunderbar. Ob es intendiert ist oder nicht, ist vollkommen egal: wenn sie produktiv ist, ist sie produktiv. Aber manchmal muss man eben sagen – naja.

Dann gehen wir doch nach diesen schönen und komplizierten Gedankengängen zu einigermaßen heiteren Textbeispielen.

 

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