# 003

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 003). Zu Gast: Tristan Marquardt

I.

 

„O ich sah ihre schimmernde Vulva

In allen Farben des Herbstlaubs,

Weinrot und nußbraun und rosa.

Tief bis ins innerste Fruchtfleisch.

Pfirsiche, Thunfisch und Anemonen,

Steinpilze, Austern und Feigen.

All diese Herrlichkeiten, bei Gott,

Kamen mir in den Sinn.

                                       Ficken,

Immer nur ficken, dachte ich, fickend.“

 

 

Der Inhalt könnte reduzierter nicht sein. In der großen Tautologie des Schlusses ist das Wort „ficken“ eigentlich sehr treffend – weil es unsinnlicher kaum sein könnte. Wenn ein Geschlechtsakt beschrieben wird, bei dem man einerseits noch reflektieren kann und den man andererseits deutlich sehen will, dann tut sich da eine Distanz zum Geschehen auf, in der die Selbstthematisierung dieser Sprache stattfindet. Das merkt man bereits daran, dass das ganze Gedicht in Anführungszeichen gesetzt ist: Es ist als Zitat ausgezeichnet. Dazu kommen klare Pathosmarkierungen wie „O“ und „bei Gott“. Gerade das „bei Gott“ aber, hinter dem sich das homerische „bei Zeus“ verbirgt, scheint in der Opulenz des dichterischen Duktus unangebracht, spielt in ein episches Register hinein. Formal ist es schon gut gemacht, wie das „Ficken“ bei Einhaltung der Zeilenlänge ganz alleine steht: Das ist schon sehr konsequent. Diese Herausstellung scheint mir aber auch ein Hinweis darauf, dass der Text sich nicht ganz traut, sich ohne den Effekt nicht genügt. Wozu diese vielen unsichtbaren Ausrufezeichen?

Aus diesem Widerspruch von inszeniertem Hochdruck und ausgestellter Distanz würden Sie also ableiten, dass es sich um einen schüchternen Text handelt?

Ein schüchterner Text, ja, ein sehr schüchterner Text. Es soll offenbar ein Gegensatz hergestellt werden zwischen der Sprache des ersten Abschnittes, schillernd, voller Assonanzen und Halbreime, und auf der anderen Seite dem dreimaligen Kontrastwort „Ficken“. Aber dieser Kontrast kommt nicht zur Wirkung, weil die ersten Zeilen in ihrer Ironie ja implizit schon beinhalten, was die letzten dann explizit machen. Spannender ist die Schlussbewegung als solche. Sie kehrt die von Anfang an aufgebaute Distanz des Begehrens in radikale Präsenz um – das ist das gebrochene, spannende Moment. Dass man aber dafür dann die steifste aller grammatikalischen Formen, das Partizip, nehmen muss – naja (lacht). Die Uneigentlichkeit des Sprechens lässt sich hier auch in kleinen Details beobachten. Der Fruchtfleisch-Vergleich ist auf der Ebene der Sichtbarkeit schon auf die Pfirsiche zugeschrieben – aber das Innerste der Frucht ist ja gerade das, was sich der Sichtbarkeit entzieht. Da wird also bereits das Imaginäre aufgerufen und damit auch die Uneigentlichkeit dieses ganzen Sehens.

Die Imagination als optische Kulinarik?

Ja, um sie zu verspeisen, „all diese Herrlichkeiten“. Das finde ich schön, dass hier „Herrlichkeiten“ gesetzt sind, das ist – zumindest gendertheoretisch – das beste Wort für diese Stelle. Eine so unglaublich männliche Perspektive kann nur als herrlich bezeichnet werden.