# 003
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 003). Zu Gast: Tristan Marquardt
in uns gab es Varianten, welche die schönsten Geliebten
bekamen, weil sie sie auszusprechen wagten.
und Varianten, die sich aus Langeweile nur noch jovial
durch die Straßen bewegten.
manche in uns hielten Rotierer in ihren Händen.
wie Märchenwesen.
einige lebten in bereinigten Staaten.
andere in uns wuchsen erst noch heran, als neunte
oder zehnte Kraft
in uns. jede ihrer Berührungen ein Obdach
im Sinne von Obdach.
sie liebten die, aus denen Raum heraustrat.
oder von der Syntax abhängige Alphabeten.
Bewohner der Zukunft. elfisch fremde
Borderline-Primaten.
Wenn ich auf der Linie der Korrespondenz bleibe, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, dann habe ich hier das Gefühl, dass der Text gegen Ende noch einmal zu sehr auf die Pauke hauen will. „oder von der Syntax abhängige Alphabeten.“ Ob der Zusatz, den diese Zeile dem Text gibt, zuträglich ist, wage ich zu bezweifeln. Weil auch hier die Selbstbezüglichkeit stark in den Vordergrund tritt und der Text, der in seiner Offenheit doch sehr klar und empathisch völlig nachvollziehbar bleibt, in meinen Augen mit der Ebene der Grammatik Schwierigkeiten bekommt. Gerade die Offenheit der Bezüge feiert am Beginn auch formal die Varianz, von der die Rede ist. Aber plötzlich wird durch die „Syntax“ ein Abstraktionsraum aufgemacht, der mir wie ein Balast erscheint. „weil sie sie auszusprechen wagten“ macht bereits die Ebene der Sagbarkeit in einer Art und Weise auf, die völlig eingebettet ist – aber das Wort „Syntax“ ist dann doch recht hart. Die Tautologie der von der Syntax abhängigen Alphabeten könnte auch einen bewusst gebauten Widerspruch provozieren. Das könnte ein Text von Ron Winkler sein. Die drei Schlusszeilen, in denen sich die völlig abgedrehten Bilder häufen, würden dazu passen und wären aufgefangen von anderen Texten und ihren ähnlichen Gedankenfiguren. In diesem einzelnen Text erscheint es mir aber etwas inkonsequent, diese Schlusshäufung fällt aus dem Ton des Gedichtes. Es wirkt wie eine Form von Ende-Ende. Dieses Phänomen findet man ja häufig in Gedichten: Das Gedicht muss noch einmal sagen, dass es jetzt zu Ende geht, obwohl es schon zu Ende ist. Das ist ein Problem, das ich durchaus auch habe. Was mir stilistisch sehr gefällt, ist, dass der Text eine gewisse Einfachheit hat, Parallelität im Bau der Varianten – was aber innerhalb der Varianten geschieht, ist reizvoll und hält dem die Waage. Der Text scheint eine Struktur für sich zu nutzen, um seine Lesbarkeit zu ermöglichen; ganz anders als etwa der dritte Text. Dieser Text übernimmt in diesem Sinne sehr viel Selbstverantwortung. „Obdach im Sinne von Obdach“, ich weiß nicht, wie oft ich diese Figur schon gelesen habe, ich habe sie auch schon selber geschrieben, das ist ein alter Witz – aber ich mag es sehr. (lacht) Geschmacksfrage. Hier geht es auf, finde ich, weil der Text sich aus Parallelisierungen und Varianten einen eigenen Boden baut, auf dem er sich sehr frei bewegen kann. Überhaupt, die ersten Verse sind verdammt fett, aber ich nehme sie dem Text ab. Einen Text, der das Aussprechen wagt, mit dem Wagnis der Aussprache zu eröffnen, das ist schon stark. Auch „Langeweile“ und „jovial“ zusammenzubringen ist spannend, weil die beiden Begriffe einerseits zusammenpassen, andrerseits aber nicht zusammenpassen, und zudem aus zwei ganz verschiedenen Begriffsfeldern kommen.
Beides sieht ja ähnlich aus, auch wenn die Wörter gegenpolig geladen sind.
Und dadurch wird eine Spannung hergestellt, die man mit anderen Wörtern nicht hätte herstellen können. Wenn man einfach sagt, dass die Leute hedonistisch sind, weil ihnen nichts besseres einfällt – ist es seinerseits langweilig. Aber so formuliert, wirkt es. Da hat der Stil das seine dazu beigetragen.
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