# 003

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 003). Zu Gast: Tristan Marquardt

III.

 

sorglos gehst du um ein

            gestirntes tier · bist du

                        operation · am offenen zeit-


strang ein strumpfband

            ein ausgedehntes ·verlangen

                        trägst du · namen die du

                                   gerissen · behutsam


ablegst vor mir

            wie jungtiere · seidene

                        strümpfe · ein kokon von deiner

                                   haut · um uns


gewickelt bis wir vollständig

            erblindet· passagiere der zeit


Dieser Text scheint mir sehr bewusst so viel an Form aufzufahren. Ich beobachte eine hochkomplexe Form, die gleichmäßigen Einrückungen in den Strophen – dadurch wird natürlich die Unregelmäßigkeit der Versanzahl pro Strophe sofort zur Frage. Ebenso das Verhältnis von recte und kursiv gesetzten Worten, was ja offenbar nicht mehr, wie im zweiten Text, zitiertes Material ausweist. Der Text kennt nur ein einziges Satzzeichen und das ist kein gebräuchliches mehr: das Kolon, ein griechisches Satzzeichen irgendwo zwischen Punkt und Doppelpunkt. Der Dichter, der dieses Satzzeichen bis zum Gehtnichtmehr gebraucht und es für die deutsche Literatur geprägt hat, ist Stefan George. Das alles führt dazu, dass mir dieser Text auf den ersten Blick recht arty erscheint. Er bemüht sehr viel, ist im Sinne der ausgespielten formalen Mittel ein hochlyrischer Text. Die Form arbeitet darauf hin, dass die einzelnen Passagen Raum bekommen: Und die klassische Frage lautet nun natürlich, ob eine solch arrivierte Form das Weiß um sich herum rechtfertigt. Einrückung und Kolon beanspruchen besonders viel Weiß und also auch besonders viel Bedeutsamkeit. Formal ist das ein sehr lauter Text. Um nun inhaltlich mit diesem Text fertigzuwerden, bräuchte ich mehr Zeit. Was ich beobachten kann, ist, dass in der sehr behutsamen Bewegung einer klassischen Ich-Du-Beziehung erst das Gegenüber erscheint, dann das Ich, und es schließlich im Wir mündet. Allerdings im Zeichen der Beobachtung, das Ich bleibt immobil. Es scheint ein komplexes Verhältnis in der Schwebe zu bestehen, dem die Form zuarbeiten soll. Aber mir ist nach dem ersten Blick noch vieles unklar.

Mir ist auch nach häufigem Lesen noch vieles unklar. Der Text geht nicht so offenherzig vor, wie die ersten beiden, scheint mir, der Zugang wird deutlich erschwert.

Dem Text gelingt es aber durchaus, eine Komplexität zu erzeugen, die man nicht schubladisieren kann. Die Wortfelder sind sehr klar definiert und werden eng miteinander vernetzt: Tiere, Zeit, Strümpfe und Gewebe. Die Wörter sind eindeutig nicht austauschbar und erscheinen nicht als „Zubehör von“. Trotzdem muss ich sagen, dass mich der Text auf eine gewisse Weise abschreckt. Er gibt mir das Gefühl, dass da viele Gewichte dranhängen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich soviel Last tragen möchte.

Das ist ja einer der großen Balanceakte der Lyrik: Wie wird einerseits formale und inhaltliche Komplexität suggeriert, aber andrerseits auch das Vertrauen geweckt, sich auf dieses Rätsel einzulassen?

Natürlich, und dann kann man auch gleich wieder skeptischer werden. Ich glaube beispielsweise inzwischen, dass hier das Kolon überhaupt nicht als Kolon benutzt wird, sondern bloß visuelle Funktion hat. Es soll nicht entscheiden, in welchem Verhältnis die Elemente links und rechts von ihm stehen. Wenn aber ein Leser zufälligerweise das Kolon aus anderen Zusammenhängen kennt, funktioniert das nicht. Der obere Punkt des Doppelpunkts. Man muss es ja nicht in der Tradition der Griechen und Georges verwenden, aber Umbesetzung ist immer eine schwere und riskante Arbeit.