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# 005
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 005). Zu Gast: Tom Schulz
Mai 2013
Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.
Tom Schulz, 1970 in Großröhrsdorf in der Oberlausitz geboren, hat seit seiner ersten Buchveröffentlichung 1997 in mindestens zweierlei Hinsicht als produktiver Beobachter von Lyrik gearbeitet – als Dozent für das Handwerk des Schreibens, etwa an der Universität Augsburg und in der Literaturwerkstatt Berlin, und als Herausgeber mehrerer Anthologie sowie der „Liebesgedichte“ von Nicolas Born. Publizistische Beiträge und Übersetzertätigkeit flankieren dieses Spektrum und dokumentieren die vielfältige Hingabe an die Arbeit mit dem Wort. Seine Lyrikbände erschienen unter anderem bei kookbooks und im Berlin Verlag, seine Prosa bei SuKuLTur und im Verlagshaus J.Frank. Sein Werk wurde etwa mit dem Bayerischer Kunstförderpreis für Literatur (2010) ausgezeichnet und durch Stipendien der Stiftung Preußische Seehandlung, der Villa Decius in Krakau und des Künstlerhofes Schreyahn gefördert.
Inwieweit ist Stil für Sie eine Frage des Vokabulars? Wie tragen Wort- und Wortfeldvorlieben zur Wiedererkennbarkeit eines Tones bei?
Ganz allgemein würde ich vorausschicken, dass ich glaube, dass Stil etwas ist, das sich nachträglich bildet. Ich stelle mir das etwa so vor: Rilke hat geschrieben und geschrieben und irgendwann, später, gab es einen Rilke-Stil. Stil entwickelt sich dadurch, dass er kopiert und nachgeahmt wird. Der Impuls der Nachahmung lässt den Blick scharf werden, welche Elemente einen Stil formieren.
Sie meinen, der Nachahmer, der rilkischer schreibt als Rilke selbst, zeigt uns, was an Rilke rilkisch ist?
Ja, zum Beispiel. Gerade in der Postmoderne ist das ein häufiges Phänomen. Es lassen sich ja derzeit durchaus ein paar Gegenwartsautoren beobachten, denen nachgeeifert wird. Ich meine das nicht negativ, im Sinne eines epigonalen Nachmachens. Das Nacheifern ist, denke ich, ein wichtiger Aspekt dieses schwierigen Begriffes Stil. Stil ist so gesehen etwas, das Erfolg hat, an dem man sich ausrichtet und orientiert. Solange man erfolglos ist (was immer das in Bezug auf Lyrik heißen mag), ist die Frage des Stils noch nicht so vorrangig. Die Vorlieben, die ein Autor hier hat und zu denen auch die Frage des Vokabulars zählt, sind eine Entwicklungssache. Als ich 18 war, konnte ich meine Vorlieben und Orientierungspunkte selbst noch sehr viel deutlicher erkennen, ob nun Bobrowski, Celan oder Hölderlin. Je länger man schreibt, umso mehr vermengt und verwischt sich das. Mit der Zeit hat es sich auch gelegt, dass bestimmte Wörter für mich tabu waren und für einen lyrischen Stil ungeeignet schienen. Vor ein paar Jahren noch hatte ich da ganz klare Vorstellungen, jetzt weniger. Im Schreiben habe ich mich jetzt wieder mehr geöffnet, gerade gegenüber einer, naja, Weltlichkeit.
Das wäre also eine Art Ellipse von der Imitatio über die Öffnung zur späten, nachträglichen, vielleicht unbewussten Verfestigung eines Stils?
Das ist natürlich schwer zu sagen. Es gibt eine Reihe von Dichtern, die man wiedererkennt. Auch wenn man einzelne Gedichte, wie die, die hier vor uns liegen, nicht erkennen könnte, so würde man einen Dichter mit prägnantem Ton doch erkennen, wenn man zehn Gedichte von ihm vor sich hätte. In Bezug auf die eigene Arbeit aber? Ob der Leser mich wiedererkennt – das hat zu sehr mit der Rezeption zu tun. Ich glaube, es ist ein Euphemismus zu behaupten, dass es eine lebendige Rezeption zeitgenössischer Lyrik gibt. Die gibt es im Grunde nur im Kreis derer, die auch selber schreiben. Auch das Feuilleton hat sich längst aus dieser Rezeption verabschiedet und nichts mehr mit eigentlicher Literaturkritik zu tun; es werden vielmehr Kaufempfehlungen abgegeben. Das hat auch damit zu tun, dass kaum mehr ein Kritiker unabhängig ist. In der Rhetorik des Feuilletons ist indessen viel von unverwechselbaren Tönen die Rede – und natürlich ist es eine Qualität des schlauen Lesers, dass er Dichter erkennen kann. Gefährlich aber wird es, wenn das in eine Erwartungshaltung umschlägt. Oder aber, wenn sich ein Stil, eine Manier wiederholt und schließlich nach acht oder zehn Bänden totläuft. Da finde ich dann Autoren, die irgendwann die Erwartungshaltungen unterlaufen oder mit diesen Erwartungen spielen, spannender. Aber um wirklich etwas über diesen Mechanismus zu erfahren, müssten viel mehr Gedichtbände verkauft werden, es müsste viel mehr in der Gesellschaft sein. Dann erst könnte man das wirklich greifen, ob ein Stil tatsächlich irgendwann als „Marke“ funktionieren kann.