# 005

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 005). Zu Gast: Tom Schulz

II.

 

Wir

wissen,

woher wir kommen.


Wir

wissen,

wohin wir gehen.


Wir haben den Kompass

in uns,

sagte der Generalsekretär

und drohte mit der Wünschelrute.


Das wird ja jetzt immer vertrackter! Ich muss sagen, dass ich mir nicht ganz sicher bin, ob das unfreiwillig komisch ist. Das ist eine gewisse Schwierigkeit bei diesem Gedicht. Ist das ernst gemeint oder nicht? Aber wir nehmen das Gedicht ernst, wir müssen er ernst nehmen, das ist immer die Bedingung. Es macht mich stutzig, dass das „wir“ und „wissen“ je auf einer Zeile steht. Was ist der Vers dabei? Ich finde es immer problematisch, ein einzelnes Wort in eine Zeile zu stellen. Das heißt ja letztendlich, dass eine besondere Bedeutung, ein besonderer Akzent hergestellt werden soll. Indem „wir“ und „wissen“ so hervorgehoben wird, versucht sich das Gedicht interessant zu machen, aber die Frage ist, was es denn sagt. Wenn man ein Freund der Gedichte von Erich Fried wäre, vielleicht – – Man könnte es anders aufziehen und sagen: Dieses Gedicht möchte sich politisch geben. Aber was kann Kritik in einem Gedicht sein? Ist es möglich, inhaltliche Kritik in einem Gedicht zu äußern – oder geht das vielmehr nur über die Sprache, über die Synthese von Inhalt und Form. Diese Synthese führt überhaupt erst zu einem beobachtbaren Stil, der sich auch als Richtung, Suggestion, Sog wahrnehmen lässt. Zudem wird mir bei diesem Gedicht nicht klar, wie das „wir“ eigentlich konstruiert ist. Sind das zwei Personen oder sechzig Millionen?

Das „wir“ scheint hier doch die übergriffige Projektion des Generalsekretärs zu sein, ein politisches „with us or against us“-wir.

Klar, das „wir“ erscheint in der Rede des Generalsekretärs – aber trotzdem hat der Text einen Sprecher, eine Perspektive, das wird mit den letzten beiden Zeilen offensichtlich. Aber diese Struktur ist zu einfach. Wenn man dem Gedicht einen politischen, einen durch die Kritik verbessernden Anspruch zugesteht, dann liegt es natürlich auf der Hand, dass wir uns über jeden freuen sollten, der schreiben und die Welt verbessern will. Das ist ein hehrer Ansatz. Aber dieser Text bleibt hinter diesem Ansatz zurück. Die Figur des Generalsekretärs ist vielleicht momentan durch Nordkorea wieder etwas präsenter, aber auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass man das im Gedicht anders lösen muss. Oder anders probieren sollte. Eine Frage an solche politischen Texte, ist die nach der Utopie, die sie entwerfen oder implizieren, und das fehlt hier. Vielleicht kommt daher auch der Eindruck, dass das Gedicht unfertig ist. Nehmen wir es doch lieber beiseite.

 

 

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