# 006

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 006). Zu Gast: Silke Peters

Juni 2013

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Silke Peters, 1967 in Rostock geboren, versteht sich auf die Arbeit und Leistungsbereitschaft der Worte – das ist nicht erst klar, seit die FAZ in einer Rezension ihres jüngsten Bandes „Ich verstehe nichts vom Monsun“ das hymnische Lob anstimmte: „Mehr kann Sprache nicht leisten.“ Neben ihrer Lehrtätigkeit an Schulen und in Naturschutzprojekten war Peters vier Jahre lang Redaktionsmitglied des „Wieker Boten“. Ihre Arbeit wurde 2011 mit einem Stipendium der Hansestadt Rostock im Schleswig-Holstein-Haus, 2012 mit einem Aufenthalt im Künstlerhauses Lukas in Ahrenshoop gewürdigt. Seit 2000 sind neben drei Gedichtbänden auch Künstlerbücher mit der inzwischen in Stralsund lebenden Autorin erschienen.


Welche Rollen spielen Stil oder Ton für Sie beim Schreiben?

Wenn ich ein neues Projekt beginne, dann brauche ich auch einen neuen Ton. Ich bin erst zufrieden, wenn sich dieser neue Ton eingestellt hat, denn dann erst kann ich weiterschreiben, die alten Texte verlassen. Der neue Ansatz muss auch stilistisch erkennbar sein. Ob allerdings andere „meinen“ Ton durchhören und vielleicht über verschiedene Bücher hinweg erkennen, dass kann ich selbst nicht beurteilen. Das ist mir entzogen.

Das ähnelt wohl dem was, Novalis über die Sprache insgesamt sagt: das Wunder ist, dass wir uns überhaupt verstehen. Das Wunder des Tons wäre, dass man ihn tatsächlich hört und spürt, ohne den Finger darauf legen zu können.

Auch das Verstehen von Gedichten ist meiner Meinung nach eher ein intuitives, sofortiges Verstehen. Alle Reflexion nimmt sich noch einmal Zeit und versucht zusätzlich Gedanken hinein zu bringen – aber das ist etwas anderes. Das ist Analyse. Verstehen geschieht, wie ich finde, meist unmittelbar, durch das Gehör. Es braucht einen starken Textanfang, der einen hineinzieht. Ansonsten legt man ja ein Gedicht auch schnell wieder weg, weil man vielleicht übersättigt ist. Dieses sofortige Verstehen wird über den Ton, über die Art und Weise des Sprechens stärker angeregt als durch Inhalte oder gedankliche Zusammenhänge. Der Text muss ja eine Sensation, etwas Neues haben, damit keine Langeweile entsteht und sich eine Spannung aufbaut. Auf der anderen Seite ist das auch der Schreibanreiz, der mich die Töne, Macharten und Strukturen wechseln lässt. Das Moment, das ich erkunden will, muss sich in einem Schlaglicht zeigen. Natürlich merkt man, wenn man lange schreibt, dass man immer wieder an ähnliche Dinge stößt, dass sich Dinge wiederholen. Der Versuch, eine neue Struktur zu kreieren, gleicht dann einem Neuanfang mit einem alten Thema.

Wie kann man sich diese Arbeit an Strukturen vorstellen?

Es geht schon ersteinmal um die grammatikalische Struktur. Da tritt nach den ersten Ansätzen immer ein Moment der Selbstanalyse hinzu, damit ich überhaupt sehen kann, was ich bisher gemacht habe und wie ich jeden Text für sich sauber abgrenzen kann. Ich arbeite im Augenblick eher im Bereich des Prosagedichtes, experimentiere an langen Gedichten, die sich in Ton und Machweise natürlich durchhalten müssen. Diese großen Strukturen sind große Unterfangen, die über ein Jahr für sich in Anspruch nehmen. Es braucht viele Experimente, bis man einen massiven Text erreichen kann, wie ich es momentan versuche.

Massiv wie ein Flöz oder massiv wie ein Projektil?

Wie ein Flöz. (lacht) Es fließt viel Material ein, viel Recherchearbeit. Insofern ist es im Tun tatsächlich eine Arbeit im Schacht, im Bergwerk. (lacht) Das ist sehr romantisch.

Wie kann man eigentlich den Begriff Prosagedicht fassen, wenn (streng) rhythmisierte Verse gar nicht mehr auf der poetologischen Tagesordnung stehen?

Ich kann das jetzt nicht literaturwissenschaftlich ausführen, aber man könnte sagen: In erster Linie hat das Prosagedicht kein Versmaß, auch kein freies, versucht aber trotzdem inhaltlichen Führungen eine Struktur zu geben. Es erzählt, aber erzählt keine Geschichte. In diesem Erzählen gibt es eine Irrationalität, die ihre Spannung halten muss, damit der Leser oder der Zuhörer nicht abbricht. Es ist sozusagen ein Erzählen, ohne wirklich erzählen zu wollen. In meinen Texten setzt es in jedem Punkt neu an, sodass auch die Lektüre an jedem Punkt neu ansetzen kann. Dabei bauen sich zudem vertikale Strukturen auf, nicht nur horizontale, sukzessive, bis ins Kleinste hinein; das ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen dem, was man „lyrische Prosa“, und dem, was man „Prosagedicht“ nennt. Es muss streng gebaut sein, sonst fällt es auseinander. Bei aller Strenge der Struktur aber habe ich schon vor langer Zeit den Vers verlassen und arbeite mit willkürlichen Zeilenbrüchen.

Der Umgang mit dem Weißen auf der Seite kann ja für die Wiedererkennbarkeit eines Personalstils genauso einschlägig sein wie der Umgang mit dem Schwarzen.

Ich formatiere Texte oft um, um einen Eindruck zu bekommen, wie der Text als Körper auf der Seite wirkt, und um zu sehen, wie er das optimal kann. Grundsätzlich aber meide ich das weiße Papier und die großen Lücken auf den Seiten. Momentan fließt es – denn das Weiße übt immer auch Druck auf das Schwarze aus. Die Stärke dieses Drucks möchte ich lieber dem Leser überlassen, der seine eigene emotionale Ladung in jeden Text mitbringt.

 

 

zurück