# 006

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 006). Zu Gast: Silke Peters

II.

 

Jetzt wieder Angst vor Bekenntnissen

Wallfahrten, Kinderkreuzzügen

verschwisterten Opfermählern:

Daß alles Bekannte schon bekannt sei.

Daß Ruhe herrscht

wo sich das bloßgelegte Herz beruhigt

also nirgends.

Auf Vernünftigkeit folgt Dunkel

auf Dunkel wölfische Heiligkeit.

Nachts höre ich die Schreie der Stummen

oder schreie ich schon selbst, halbwach.

 

Ein ganz anderer Text. Er spricht, wenn man das so sagen kann, von der Dichotomie aus Religion und Vernunft, von der Angstkomponente, die mit Religion beruhigt wird. Die dichterische Stimme lässt sich vom Rituellen nicht beeindrucken und nimmt die Grausamkeit der rituellen Handlungen umso stärker wahr. Der Schmerz und der Wahnsinn, die in die geregelten Bahnen des Tages- und Jahresablaufes geleitet werden sollen, bestimmte ekstatische Erlebnisse, die für den religiösen Hausgebrauch aufbereitet wurden – (lacht) Das ist dem sprechenden Ich nicht möglich, es hört die Schmerzstimme zu deutlich heraus. Die implizite Frage ist auch hier, wie das bei den anderen so ist, ob deren Herz auch bloßgelegt ist. Die Anlage ist enorm sensitiv. Die kollektive Aufwallung und die Beruhigung, aber nur einer kann es wahrnehmen und auch rational aussprechen: so entsteht eine gewisse Situation des Einzelnen gegen Alle. Die Sicherheit des Kirchenjahres scheint ja etwas zu sein, das für viele funktioniert, aber demgegenüber wird der Einzelne immer mehr einzeln. Er kann sich nicht mehr sedieren lassen gegen die Schmerzen, die jemand anderes gehabt hat.

Würden Sie sagen, dass sich die Spannung „Einer gegen Alle“ stilistisch ausdrückt? Inwieweit könnte man zum Beispiel die Form des Textes mit dem Argument einer Korrespondenz von Stil und Inhalt belasten?

Die Einstrophigkeit verstärkt natürlich diesen Eindruck von hartem Kern, ebenso die Eröffnung mit relativ gewichtigen Begriffen, obwohl das Ich ausdrücklich erst recht spät fällt. Es ist ein ziemlich massiver Text, der durch die beiden „ichs“ am Schluss emotional sehr stark aufgeladen wird. Dadurch wird die Einzelposition herausgestellt, zumal die Eröffnungsbegriffe nicht nur gewichtig, sondern auch historisch sind. Wer macht denn heute noch Wallfahrten? Dazu kommt, dass sich der Text in gewisser Weise von rückwärts liest. Die Stimme reibt sich an diesen religiösen Bräuchen ab und auf. Das wird ein starkes Herkunftsfeld sein, vermute ich mal. Ich habe den Eindruck, dass es auch um die Kinderreligion geht, den Kontext des Aufwachsens. Dazu kommt die Beklommenheit dieses Textes, weil nicht klar wird, wie weit das Bedrohliche eigentlich weg ist. Aber es geht schnell, zügig. Dieses Sprechen verschwistert sich eben auch mit den vielen, die Schmerzen haben, aber es nicht ausdrücken. Die Stimme macht sich zu deren Sprechstimme.

Aber diese eine Stimme, die rational scheint und sich herausstellt, geht doch nicht in einem aufklärerischen Gestus auf. Zwar bleibt die Lichtmetaphorik von hell und dunkel stabil, aber es äußert sich als klare These, dass es gerade die Vernünftigkeit ist, die wieder umkippt.

Ja, das ist auf keinen Fall von einer Aufklärungsposition her gedacht. Die Sprechstimme hat nur die aufgeklärten Mittel bei sich, um sich mit den großen Begriffen beschäftigen und sich von ihnen distanzieren zu können. Und um es überhaupt auszuhalten, darüber nachzudenken. Aber die Reflexion ist zu emotional um aufklärerisch zu sein. Da wird teilnehmend gesprochen, nicht aus einer Konterideologie heraus. Schon der scharfe Einsatz mit „Jetzt“ deutet auf diese Unmittelbarkeit. Der Beginn mit der „Angst vor Bekenntnissen“ beschreibt natürlich genau das, was die Schreibstimme macht: ein Bekenntnis, eine Beichte. Das Gedicht ist ein Bekenntnis der Ruhelosigkeit, der desolaten emotionalen Situation. Der ganze ist in diesem Sinne ein evokativer Schrei über das, was man gerade noch aushalten und aufschreiben kann. Das Unbekannte, das sich aus der Mechanik der religiösen Metaphorik ergibt, wird angeschrien.

 

 

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