Das schwindende Licht der Demokratie

Essay

Autoren:
Arundhati Roy, Übersetzung aus dem Englischen Lilian-Astrid Geese
 

Essay

Das schwindende Licht der Demokratie

Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin am 09.09.2009 im Haus der Berliner Festspiele.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese

Noch streiten wir, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, doch sollten wir uns vielleicht einer weiteren Frage stellen: Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Und wie wird dieses
aussehen? Demokratie meint dabei nicht ein Ideal oder eine Hoffnung. Vielmehr geht es um das Arbeitsmodell: die westliche, liberale Demokratie, ihre Varianten und ihre Realität.
Nun denn: Gibt es ein Leben nach der Demokratie?

Ein beliebter Weg der Annäherung an dieses Thema ist der Vergleich unterschiedlicher Regierungssysteme, ein Versuch, der regelmäßig in eine eher holprige Vorwärtsverteidigung der Demokratie mündet. Man argumentiert, die Demokratie habe Schwächen, sie sei nicht perfekt, jedoch besser, als alle anderen Optionen, die sich bieten. Nur selten wird die Debatte geführt, ohne dass irgendwann jemand sagt: ‚Afghanistan, Pakistan, Saudi Arabien, Somalia . . . Ist es das, was wir wollen?’ Jedoch geht es heute nicht um das Thema der Demokratie als Utopie, die alle ‘sich entwickelnden’ Gesellschaften anstreben sollten - wenngleich ich der Meinung bin, dass die Dynamik ihrer frühen, idealistischen Phase durchaus Charme hat. Vielmehr richtet sich die Frage nach dem Leben nach der Demokratie an diejenigen von uns, die in demokratischen Gesellschaften leben, oder in Ländern, die vorgeben, demokratisch zu sein, und sie impliziert keineswegs den Rückgriff auf ältere, zweifelhafte Modelle totalitärer oder autoritärer Herrschaft. Allerdings verweist sie auf die Notwendigkeit einer gewissen strukturellen Anpassung des Systems repräsentativer Demokratie, in dem es zu viel Repräsentanz und zu
wenig Demokratie gibt.
Es mag Demokratiekritik unangemessen erscheinen vor einem Publikum aus Schriftstellern, die aus Ländern kommen, deren Völker nie Demokratie hatten oder deren totalitäre Regimes ihnen die Grundrechte seit Jahrzehnten verweigern. Doch nicht nur das globale Kapital, auch die politischen Systeme der Welt sind miteinander vernetzt. Oft sind es gerade die großen, demokratischen Nationen, die - versteckt hinter der Maske des Hüters der Moral und im Habitus des Retters der Menschheit - Militärdiktaturen und totalitäre Regimes unterstützen und stärken. Die Kriege in Irak und Afghanistan, in denen hunderttausende Menschen starben und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht worden sind, wurden im Namen der Demokratie geführt. Vorgeblich demokratische Länder verantworten militärische Okkupation in aller Welt, nicht zuletzt in Palästina, Irak, Afghanistan und Kaschmir.
Die Frage lautet also: Was haben wir der Demokratie angetan? Zu was haben wir sie gemacht? Was geschieht, wenn sie aufgebraucht, wenn sie hohl und sinnentleert geworden ist? Was folgt, wenn ihre Institutionen als gefährliche Krebsgeschwüre wuchern? Wie wirkt die Fusion von Demokratie und freiem Markt, ihre Verschmelzung zu einem einzigen, räuberischen Organismus, in dem eine abgemagerte, beschränkte Vorstellungskraft nur noch Gewinnmaximierung kennt? Ist dieser Prozess umkehrbar? Lässt sich die Mutation zurückbilden? Kann Demokratie wieder zu dem werden, was sie einst war?
Ohne eine langfristige Vision kann unser Planet nicht überleben. Dürfen wir diese aber von Regierungen erwarten, deren eigene Existenz vom unmittelbaren und kurzfristigen Profit abhängt? Ist die Demokratie - Erfüllung unserer Hoffnung, Wiege unserer individuellen Freiheit, Ziel unserer ambitionierten Träume - nur noch das Finale im Spiel des Lebens?
Begeistert sich der Mensch der Moderne vielleicht gerade deshalb für sie, weil sie unserem größten Wahn - unserer Kurzsichtigkeit - den Spiegel vorhält? Der Mensch kann - anders als die meisten Tiere - niemals ganz und gar in der Gegenwart leben, doch der Blick in die Zukunft ist ihm verwehrt. Damit wird er zu einem seltsamen Zwischengänger, weder Bestie noch Prophet, ausgestattet mit faszinierender Intelligenz, doch nicht mehr über einen Überlebenstrieb verfügend. Der Mensch plündert die Erde und hofft zugleich, dass die Akkumulation von materiellem Mehrwert das Profunde und Unermessliche, das er verloren hat, wettmacht.

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