Das schwindende Licht der Demokratie

Essay

Autoren:
Arundhati Roy, Übersetzung aus dem Englischen Lilian-Astrid Geese
 

Essay

Das schwindende Licht der Demokratie

Heute ist die offizielle Anerkennung oder Leugnung, und in jüngerer Zeit auch die Produktion imaginärer Holocausts und Genozide, im Zusammenspiel von Völkermordpolitik und dem freien Markt zu einem multinationalen Geschäft geworden. Historische Fakten, forensische Beweise zählen quasi nicht. Moral spielt keine Rolle. Das Geschehene wird aggressiv und hartnäckig verhandelt, in einem Prozess, der eher an die WTO als an die Vereinten Nationen erinnert. Geopolitik ist die Währung, mit der man zahlt, und es geht um die fluktuierenden Märkte für natürliche Ressourcen, um die seltsame Konstruktion der Futures und um die ‚gute alte’ wirtschaftliche und militärische Macht.
Für den Genozid werden in diesem Kontext oft die gleichen Gründe angeführt, wie für seine Verfolgung: ökonomischer Determinismus getränkt mit rassistischer, ethnischer, religiöser oder nationaler Diskriminierung. Die Senkung oder Erhöhung des Preises für ein Barrel Öl (oder eine Tonne Uran), die Erlaubnis, eine Militärbasis einzurichten, oder die Öffnung der Wirtschaft des Landes werden damit zum entscheidenden Faktor in der Beurteilung einer Regierung darüber, ob es Völkermord gab oder nicht. Oder auch darüber, ob es Völkermord geben wird oder nicht und ob darüber berichtet wird oder nicht. Und wenn berichtet wird, wie berichtet wird. So war beispielsweise über den Tod von zwei Millionen Menschen in Kongo praktisch nichts zu hören. Warum? Und war der Tod von einer Million Irakern in Folge der Sanktionen vor der US-Invasion 2003 ein Genozid, wie der UNKoordinator für Humanitäre Angelegenheiten im Irak Denis Halliday sagte? Oder hat die USamerikanische UN-Botschafterin Madeleine Albright Recht, die erklärte, dass „die Sache es wert war“? Wer herrscht, bestimmt die Regeln. Ist es der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? Oder eine irakische Mutter, die ihr Kind verlor?
Die Geschichte des Genozids lehrt uns, dass dieser nicht Irrung, Anomalie oder Panne im menschlichen System ist. Er ist eine Gewohnheit und so alt und beständig Teil der conditio humana, wie Liebe, Kunst und Landwirtschaft. Die meisten Völkermorde seit dem 15. Jahrhundert waren Teil des europäischen Strebens nach dem, was der deutsche Geograph und Zoologe Friedrich Ratzel als Lebensraum bezeichnete. ‚Lebensraum’ war das Wort, das er prägte, um den seiner Meinung nach dominanten natürlichen Impuls der Spezies Mensch nach Ausdehnung des eigenen Territoriums zu beschreiben. Bei diesem Streben ging es niemals nur um Land oder Raum sondern um Nahrung und Versorgung, kurz um Lebenserhalt. 1901 wurde das Wort Lebensraum zum ersten Mal in diesem Zusammenhang verwendet. Doch Europa begann die Suche nach Lebensraum bereits vierhundert Jahre zuvor, als Columbus Amerika erreichte.
Sven Lindqvist schreibt in seinem Buch Exterminate All the Brutes, dass Hitlers Streben nach Lebensraum in einer Welt, die andere europäische Länder bereits unter sich aufgeteilt hatten, die Nazis nach Osteuropa und weiter nach Russland trieb. Dabei standen die osteuropäischen und westrussischen Juden Hitlers kolonialem Ehrgeiz im Weg und mussten, wie zuvor die indigenen Völker Afrikas, Amerikas und Asiens, versklavt oder liquidiert werden. Die rassistische Dehumanisierung der Juden, erklärt der Autor, sei nicht als Ausbruch eines bösartigen Wahnsinns zu erklären. Sie ist vielmehr - und einmal mehr - das Produkt der uns vertrauten Kombination aus ökonomischem Determinismus und wohlkonserviertem Rassismus, und steht damit ganz und gar in der europäischen Tradition jener Zeit.
Angesichts dieser Interpretation der Geschichte kann die besorgte Frage nicht ausbleiben, ob ein an der Schwelle des “Fortschritts” stehendes Land wie Indien sich nicht auch an der Schwelle des Genozids befindet. Ist die weltweit als Wunder des Fortschritts und der Demokratie gefeierte Nation gar in einem Prozess der Selbstkolonialisierung verhaftet und droht ihr in naher Zukunft vielleicht ein Genozid? Die Frage an sich mag exotisch klingen, und aktuell ist die Verwendung des Wortes Genozid tatsächlich nicht gerechtfertigt.
Doch am Ende werden die Zaren der Entwicklung, wenn sie an ihre eigene Propaganda glauben und überzeugt sind, dass es zu dem von ihnen gewählten Modell des Fortschritts ‚keine Alternative’ gibt, töten müssen. Und sie werden viele töten müssen, um ihre Ziele durchzusetzen.
Der Blick auf die Karte zeigt: Die indischen Waldgebiete, die mineralienreichen Zonen des Landes und die Heimat der Adivasi decken sich. Diejenigen, die wir arm nennen, sind die eigentlich Reichen im Land. Je fester globale Konzerne und die Wirtschaft unser Leben und unsere Fantasie im Griff haben, desto enger schließen sich die Profiteure zusammen. Aus kosmischer Höhe zeigen ihre Satellitenbilder die Wälder und Flusstäler, wo die Armen leben. Sie blicken herab und sehen ‚überflüssige’ Menschen die auf wertvollen Ressourcen sitzen. Irritiert (und verärgert) fragen sie sich: Was macht unser Wasser in ihren Flüssen, was macht unser Bauxit in ihren Bergen, was macht unser Eisenerz in ihren Wäldern? Die Nazis prägten einen Begriff dafür: Sie sprachen von überzähligen Essern.
„Der Kampf um den Lebensraum”, schrieb Friedrich Ratzel mit Blick auf den Kampf zwischen den indigenen Völkern und ihren europäischen Kolonialherren in Nordamerika, „ist ein Vernichtungskampf“. Vernichtung meint dabei nicht notwendigerweise die physische Auslöschung von Menschen – durch Niederknüppeln, Schlagen, Verbrennen, Bajonette, Vergasung, Zerbomben oder Erschießen. (Wobei natürlich Menschen auch physisch bekämpft werden - insbesondere, wenn sie versuchen, Widerstand zu leisten. Dann aber nennt man sie ‚Terroristen’.) Historisch betrachtet ist die effizienteste Form des Völkermords die Vertreibung von Menschen, die man in Lager sperrt und denen man den Zugang zu Nahrung und Wasser verweigert. Sie sterben ohne offensichtliche Gewalteinwirkung, oft in noch größerer Zahl als durch direkte Gewalt. Auf diese Weise löschte der deutsche General Adolf Leberecht von Trotha im Oktober 1904 die Herero in Südwestafrika aus. „Die Nazis zwangen die Juden, sich einen Stern auf den Mantel zu nähen, und trieben sie in ‘Reservaten’zusammen”, schreibt Sven Lindqvist, „nicht anders, als man es mit den indigenen Völkern, den Hereros, den Buschmännern, den Amandebele und allen anderen Kindern der Sterne gemacht hatte. Zusammengesperrt starben sie von allein, als man die Lebensmittelzufuhr der Reservate kappte.“ Amartya Sen erinnert daran, dass Hungersnöte in einer Demokratie unwahrscheinlich sind. Die Große Hungersnot Chinas wurde durch die Große Unterernährung Indiens abgelöst. (In Indien leben 57 Millionen unterernährte Kinder. Das ist über ein Drittel aller unterernährten Kinder der Welt.)
Ein Teil des hochwertigsten Eisenerzes der Welt findet sich im Bezirk Dantewara im indischen Bundesstaat Chhattisgarh, wo 644 Dörfer evakuiert und 50.000 Menschen in Polizeilager gezwungen wurden. Die jüngeren unter ihnen versorgte man mit Waffen und bildete sie für eine Miliz namens Salwa Judum aus. Die übrigen 300.000 Dorfbewohner verschwanden vom Radar der Regierung. Keiner weiß, wo sie sind und wie sie überleben. Die
Polizei bezeichnet alle, die nicht in den Lagern leben, als Maoisten oder maoistische Sympathisanten, womit sie zu legitimen Zielen der berüchtigten ‚Tötung im Gefecht’ in Indien geworden sind. Die Sicherheitskräfte sind in Stellung gebracht. Sie warten nur noch, bis der Regen aufhört. Doch schon erreichen uns Tag für Tag Nachrichten, die zeigen, dass das Töten und Sterben und natürlich die Vergewaltigungen der Frauen als unvermeidlicher Aspekt der Militarisierung, bereits begonnen haben.
Wie konnte es dazu kommen?

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