Das schwindende Licht der Demokratie

Essay

Autoren:
Arundhati Roy, Übersetzung aus dem Englischen Lilian-Astrid Geese
 

Essay

Das schwindende Licht der Demokratie

Beim Stichwort Konsens kommt das ewige Thema Kaschmir in den Sinn. Hier ist der Konsens in Indien tief verankert und umfasst alle Teile des Establishments: Medien, Verwaltung, Intellektuelle und Bollywood. Meine Zeit reicht hier nicht, um die Geschichte der unendlichen Tragödie Kaschmirs zu erzählen. Doch kann ich nicht von Indien sprechen, ohne Kaschmir zu erwähnen. Dies wäre unverzeihlich und mir unmöglich.
Der Freiheitskampf Kaschmirs begann 1947, doch erst vor zwanzig Jahren, 1989, kam es zu einem bewaffneten Aufstand. Siebzigtausend Menschen ließen in diesem Konflikt bisher ihr Leben. Zehntausende wurden gefoltert, mehrere tausend Menschen ‘verschwanden’, Frauen wurden vergewaltigt, viele zu Witwen gemacht. Über eine halbe Million indische Soldaten sind im Kaschmir-Tal stationiert, womit die Region zur am stärksten militarisierten Zone der Welt geworden ist. (Die USA hatten zu Hochzeiten der Besatzung knapp 165.000 Soldaten im Irak.) Die indische Armee behauptet heute, sie habe den militärischen Widerstand in Kaschmir niedergeschlagen. Das mag stimmen. Bedeutet Militärherrschaft aber auch Sieg?
Kaschmir liegt, und hier stellt sich das Problem, an den Verwerfungslinien einer Region, die von Waffen überschwemmt wird und ins Chaos abzugleiten droht. Der Unabhängigkeitskrieg der Kaschmiri ist in den Strudel gefährlicher und miteinander im Konflikt stehender Ideologien geraten: indischer Nationalismus (ökonomischer und ‘hinduistischer’ Prägung mit imperialistischen Schattierungen), pakistanischer Nationalismus (der unter der Last der eigenen Widersprüche ächzt), (angesichts einer auftankenden Wirtschaft ungeduldig werdender) US-Imperialismus und die wiedererstarkenden, mittelalterlich-islamistischenTaliban (die trotz ihrer wahnsinnigen Brutalität schnell an Legitimität gewinnen, denn sie leisten, so versteht man es, Widerstand gegen die fremden Besatzer). Jede dieser Ideologien ist zu einer Skrupellosigkeit fähig, die von Genozid bis zum Atomkrieg reichen kann. Kombiniert mit den imperialistischen Ambitionen Chinas, der aggressiven Reinkarnation Russlands, den riesigen Erdgasvorkommen in der kaspischen Region und dem ständigen Verweis auf Erdgas-, Ölund Uranreserven in Kaschmir und Ladakh ergibt dies das Rezept für einen neuen Kalten Krieg, der, wie schon der letzte, für manche durchaus ein heißer Krieg ist.
Kaschmir wird unvermeidlich der Kanal sein, durch den das sich in Afghanistan und Pakistan entwickelnde Chaos nach Indien hineinschwappen und in der Wut der jungen unter den 150 Millionen indischen Muslime niederschlagen wird, die unter Gewalt, Erniedrigung und Marginalisierung leiden. Ein Indiz dafür war die Anschlagsserie, die 2008 mit dem Terror von Mumbai ihren Höhepunkt erreichte.
Indiens - verzeihen Sie das Wortspiel - Schnellschuss, die mit Waffengewalt erzwungene Übergangslösung für Kaschmir, hat das Problem nachhaltig verschärft.
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Vielleicht ist die Geschichte des Siachen Gletschers mit dem höchstgelegenen Schlachtfeld der Welt die passendste Metapher für den Wahnsinn unserer Zeit. Tausende von indischen und pakistanischen Soldaten sind hier stationiert und frieren bei eisigem Wind und Temperaturen von unter Minus vierzig Grad Celsius. Viele der Hunderte, die hier den Tod fanden, starben an der Kälte - an Erfrierungen und Sonnenbrand. Der Gletscher ist mittlerweile eine Müllkippe. Hier lagert Kriegsschrott: Tausende von leeren Giftgasgranaten, Brennstoffbehälter, Eispickel, alte Stiefel, Zelte und anderer Müll, generiert von Tausenden von Kämpfern. Der Abfall dort zerfällt nicht. Eisige Kälte lässt ihn intakt und macht ihn zu einem unverdorbenen Monument menschlichen Irrsinns. Während die Regierungen Indiens und Pakistans Milliarden Dollar für die Waffen und Logistik dieses Höhenkrieges ausgeben, beginnt das Schlachtfeld jedoch zu schmelzen. Heute ist es nur noch halb so groß, wie es einst war. Dies ist allerdings weniger die Folge der verfahrenen militärischen Lage, als Konsequenz des guten Lebens, das Menschen in großer Ferne, auf der anderen Seite der Erde, leben. Es sind gute Menschen, die an Frieden, freie Meinung und die Menschenrechte glauben. Sie leben in vitalen Demokratien. Ihre Regierungen sind im UN-Sicherheitsrat vertreten. Ihre Ökonomien sind vom Export von Kriegen und Waffenhandel mit Ländern wie Indien und Pakistan (und Ruanda, Sudan, Somalia, Republik Kongo, Irak, Afghanistan sowie anderen auf dieser langen Liste) abhängig. Die Gletscherschmelze wird auf dem Subkontinent zu massiven Überschwemmungen führen. Lange Dürrezeiten werden folgen und das Leben von Millionen Menschen beeinträchtigen. Für uns ist das ein weiterer Grund, zu kämpfen. Wir werden mehr Waffen brauchen. Wer weiß, vielleicht ist es genau dieses Vertrauen der Verbraucher, was die Welt braucht, um die aktuelle Rezession zu überwinden. Den Menschen in den vitalen Demokratien wird es dann noch besser gehen - und die Gletscher schmelzen schneller.
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Das Publikum im Audimax der Universität von Istanbul, vor dem ich sprach, war angespannt - denn Worte wie Einheit, Fortschritt, Genozid und armenisch verärgern die türkischen Behörden, wenn sie sich zu eng beieinander im Text finden. Ich sah Hrant Dinks Witwe Rakel Dink in der ersten Reihe sitzen. Sie weinte. Am Ende meines Vortrags umarmte sie mich und sagte: ‘Wir hoffen weiter. Warum verlieren wir die Hoffnung nicht?’‚Wir’, sagte sie. Nicht ‚ihr’.

Die Worte des Urdu Dichters Faiz Ahmed Faiz, so bewegend gesungen von Abida Parveen, kamen mir in den Sinn:
nahin nigah main manzil to justaju hi sahi nahin wisaal mayassar to arzu hi sahi Im Versuch meiner Übersetzung heißt das:
Nimmt man dir deine Träume, lass die Sehnsucht an ihre Stelle treten.
Ist Begegnung unmöglich, gib dem Verlangen seinen Raum.

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