weitere Infos zum Beitrag
Essay
Das schwindende Licht der Demokratie
Vor zwanzig Jahren, im Winter 1989, waren viele von uns Zeugen des glücklichen Augenblicks, in dem die Berliner Mauer fiel und die Stadt wiedervereint wurde. Allerdings wurden die Hämmer, die die Mauer zum Einsturz brachten, von einem anderen, weit entfernt in den zerklüfteten Bergregionen Afghanistans stattfindenden Krieg getrieben, in dem Kapitalismus seinen langen Jihad gegen den Sowjetkommunismus gewann. Nur wenige Monaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Mauerfall vollzog die indische Regierung, einst an der Spitze der Bewegung der Blockfreien, eine drastische Kehrtwende und verbündete sich mit den Vereinigten Staaten, dem Herrscher der neuen, unipolaren Welt.
Über Nacht galten in Indien andere Spielregeln. Millionen Menschen in abgelegenen Dörfern und tief im Herzen unberührter Wälder, von denen manche noch nie von Berlin oder der Sowjetunion gehört hatten, hätten sich nie träumen lassen, wie sehr die Ereignisse in weiter Ferne ihr Leben beeinflussen würden. Die indische Wirtschaft öffnete sich dem internationalen Kapital. Gesetze zum Schutz der Arbeiter wurden abgeschafft. Die Ära der Privatisierung und der Strukturanpassung begann.
Heute stehen die Begriffe ‚Fortschritt’ und ‚Entwicklung’ für eine ‚Wirtschaftsreform’, die Deregulierung und Privatisierung bedeutet. ‚Freiheit’ meint ‚Auswahl’, und es geht nicht mehr um den menschlichen Geist, sondern um verschiedene Deodorantmarken. Der ‚Markt’ ist nicht länger ein Ort, den man aufsucht, um sich mit Vorräten zu versorgen, sondern ein entterritorialisierter Raum, in dem gesichtslose Unternehmen Geschäfte machen und, unter anderem, ‚Futures’ kaufen und verkaufen. ‚Gerechtigkeit’ meint ‚Menschenrechte’ (von denen, so sagt man, ‚ein paar reichen’). Dieser Diebstahl der Sprache, diese Usurpation von Worten, die wie Waffen eingesetzt werden, um Absichten zu verschleiern und die jetzt genau das Gegenteil von dem bedeuten, was sie einst besagten, ist einer der brillantesten strategischen Siege in diesem neuen System. Die Kritiker werden marginalisiert, indem man ihnen die Sprache nimmt, mit der sie Zweifel vorbringen könnten. Man diskreditiert sie als ‚Feinde des Fortschritts’, ‚Gegner der Entwicklung’, ‚Anti-Reformer’ und natürlich ‚Feinde der Nation’.
Man erklärt sie zu Verweigerern der übelsten Sorte. Wer über die Rettung der Flüsse oder den Schutz der Wälder spricht, dem hält man entgegen: ‚Glaubst du denn nicht an den Fortschritt?’ Menschen, deren Land durch Staudammbau geflutet oder deren Häuser von Bulldozern niedergewalzt werden, konfrontiert man mit der Frage: ‚Hast du denn ein alternatives Entwicklungsmodell?’ Denjenigen, die glauben, dass eine Regierung Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit garantieren muss, müssen sich den Vorwurf anhören: ‚Du bist wohl gegen den Markt!’ Und welcher vernünftige Mensch könnte wohl gegen den Markt sein?
Wir, die Schriftsteller, versuchen immer wieder, die Distanz zwischen Gedanken und Ausdruck zu verringern und unseren innersten, profundesten Überlegungen Form zu verleihen. In der neuen Sprache der Entwicklung geschieht genau das Gegenteil. Hier geht es um das Verschleiern, um das Verbergen der wahren Absichten.
Dieser Raub der Sprache erweist sich als Eckpfeiler des Versuchs, die Dinge auf den Kopf zu stellen.
Zwanzig Jahre dieser Art des ‚Fortschritts’ in Indien haben zur Herausbildung einer breiten Mittelschicht geführt, die trunken ist vom raschen Wohlstand und vom Respekt, der ihr plötzlich entgegen gebracht wird. Gleichzeitig ist eine wesentlich größere, verzweifelte Unterschicht entstanden. Millionen Menschen wurden durch Überschwemmungen, Dürrekatastrophen und Verwüstung in Folge massiver Eingriffe in die Umwelt – riesige Infrastrukturprojekte, Staudämme, Minen und Sonderwirtschaftszonen – besitz- und obdachlos. Die angeblich im Interesse der Armen ergriffenen Maßnahmen dienen in Wirklichkeit nur den immer größer werdenden Bedürfnissen der neuen Aristokratie.
Im Zentrum der indischen Debatte über ‚Entwicklung’ steht der Kampf um das Land. Der ehemalige Finanzminister P. Chidambaram stellt sich vor, dass 85 Prozent der Bevölkerung in Städten leben soll. Die Verwirklichung der ‚Vision’, die er der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr präsentierte, erfordert soziales Engineering in unvorstellbarem Ausmaß: Fünfhundert Millionen Menschen müssen überzeugt oder gezwungen werden, vom Land in die Städte zu migrieren. Diesen Prozess kann Indien nur als Polizeistaat umsetzen: Menschen, die sich weigern, ihr Land aufzugeben, werden mit Waffengewalt vertrieben. Chidambarams ‚Vision’, die im Grunde ein Albtraum ist, impliziert die Räumung riesiger Landstriche und die Übergabe aller natürlichen Ressourcen Indiens an die Konzerne.
Schon jetzt verwüsten marodierende Multis die Wälder, Berge und Gewässer mit Hilfe eines Staates, der jegliche soziale Bindung aufgegeben und sich dem ‚Ökozid’ verschrieben hat. Im Osten des Landes werden komplette Ökosysteme durch den Abbau von Bauxit und Eisenerz zerstört. Fruchtbarer Boden wird zur Wüste. Im Himalaya sind hunderte Mega9 Staudämme geplant. Mit katastrophalen Konsequenzen. In den Ebenen werden unter dem Vorwand des Hochwasserschutzes die Flüsse kanalisiert. Dadurch heben sich die Flussbetten, die Flüsse führen mehr Wasser und treten wesentlich häufiger über die Ufer, als in der Vergangenheit. Der Salzgehalt der landwirtschaftlichen Böden steigt, und die Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird vernichtet. Die meisten heiligen Ströme Indiens, darunter der Ganges und der Yamuna, sind zu ganz und gar nicht heiligen Senken geworden, in denen mehr Schmutz- und industrielle Abwässer fließen, als Wasser. Kaum noch ein Fluss folgt seinem ursprünglichen Lauf und fließt ins Meer.
Nachhaltige Getreidesorten, die den lokalen Bodenbedingungen und dem jeweiligen Mikroklima angepasst sind, werden durch wasserzehrende Hybride und genetisch modifizierte Cash-Crops ersetzt. Diese steigern nicht nur extrem die Abhängigkeit von den Märkten, sondern benötigen auch riesige Mengen von chemischem Dünger, Pestizide, Bewässerungskanäle und Grundwasser. Misshandlung und chemische Produkte laugen das Ackerland aus, bis dieses schließlich unfruchtbar wird. Die Kosten für die landwirtschaftliche Produktion steigen, und die Kleinbauern geraten in die Schuldenfalle. In den letzten Jahren haben über 180.000 indische Landwirte Selbstmord begangen. Während die mit langsam verrottenden Lebensmitteln gefüllten staatlichen Getreidesilos zu Bersten drohen, leidet das Land Hunger und Unterernährung. Die Lage ist mit der afrikanischen Subsahara-Region vergleichbar.
Eine alte Gesellschaft, die unter dem Gewicht von Feudalismus und Kastenwesen zu kollabieren begann, ist in den Strudel einer riesigen Maschinerie geraten. Angesichts der traditionellen, teils neu kalibrierten und zunehmenden Ungleichheit, droht die Gesellschaft auseinander zu brechen. Im Zerfallsprozess bildete sich eine dünne Schicht fetter Creme auf einer großen Menge dünnen Wassers. Die Creme sind die vielen Millionen Verbraucher auf dem indischen Markt, die Autos, Handys, Computer und Grußkarten zum Valentinstag kaufen und den Neid der internationalen Geschäftswelt hervorrufen. Das Wasser bleibt dagegen bedeutungslos. Gleichgültig, ob es herumschwappen darf oder in Rückhaltebecken gestaut wird: Am Ende wird es abfließen und zurück bleibt ausgetrockneter Boden.
Zumindest schien dies der Lauf der Dinge zu sein – bis der Krieg im indischen Kernland ausbrach und Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen erfasste.
Doch kehren wir zurück ins Jahr 1989. Als wollte sie die Verbindung zwischen ‚Einheit’und ‚Fortschritt’ illustrieren begann die rechtsgerichtete Bharatya Janata Partei (BJP) ihre massive Kampagne des Hindu-Nationalismus (Hindutva) just als die Regierung der Kongresspartei den indischen Markt für die internationale Finanzwelt öffnete. Das Hindutva-Projekt ist weitgehend das Produkt der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), ideologischer Kern und Holding Company der BJP. Die RSS wurde 1925 gegründet und nach dem Muster des italienischen Faschismus gestaltet. Auch Hitler war, und ist, ihr Inspiration. So heißt es in M.S. Golwalkers RSS-‚Bibel’ Wir, oder: Definition unserer Nation:
Seit jenem schrecklichen Tag, als die Moslems Hindustan erreichten, bis heute, kämpfte die Hindu-Nation heldenhaft gegen diese Plünderer. Der Geist der Rasse ist erwacht.
Und weiter:
Um die Reinheit der Rasse und Kultur zu wahren schockte Deutschland die Welt, indem es das Land von den semitischen Rassen säuberte – den Juden. Rassenstolz in höchstem Maß manifestierte sich hier … eine gute Lektion für uns in Hindustan.
Lernen und nutzen wir sie!
Die RSS hat heute über 45.000 shakhas (Abteilungen) und eine Armee von mehreren Millionen swayamsevaks (Freiwilligen), die ihre Lehre überall in Indien verbreiten. In ihren Reihen finden sich so prominente Mitglieder wie der ehemalige Premierminister Atal Bihari
Vajpayee, der Oppositionsführer L. K. Advani und der dreimalige Ministerpräsident von Gujarat Narendra Modi. Zu ihren nicht offiziellen Anhängern zählen wichtige Vertreter der Medien, der Polizei, Armee, des Geheimdienstes, der Justiz und der Verwaltung.
1990 reiste der Führer der BJP L.K. Advani durch das Land und schürte den Hass gegen Muslime. Er forderte den Abriss der Babri Masjid Moschee, die im 16. Jahrhundert an einer umstrittenen Stelle in Ayodhya gebaut worden war, und die Errichtung eines Ram Tempels am gleichen Standort. 1992 zerstörte ein von Advani angefeuerter Mob die Moschee. Anfang 1993 wütete ein weiterer Mob durch Mumbai, griff Muslime an und tötete fast eintausend Menschen. In einem Racheakt explodierten darauf mehrere Bomben in der Stadt. 250 Menschen starben. Die BJP profitierte von der Massenhysterie, die sie selbst provoziert hatte, und errang 1998 im Zentrum den Wahlsieg über die Kongresspartei.
Es ist kein Zufall, dass die Hindutva-Bewegung genau in dem historischen Augenblick stark wurde, in dem die USA ihren Erzfeind, den Kommunismus, durch den Islam ersetzte.
Plötzlich waren die radikalen, islamistischen Mujaheddin, die Präsident Reagan noch im Weißen Haus empfangen und mit den Gründervätern Amerikas verglichen hatte, Terroristen.
Im Ersten Golfkrieg 1990 wandelte sich die indische Regierung, einst treuer Freund der Palästinenser, zum ‚natürlichen erbündeten’ Israels. Mittlerweile führen Indien und Israelgemeinsame Militärmanöver durch, tauschen Geheimdiensterkenntnisse aus und korrespondieren vermutlich auch über die Frage, wie man besetzte Gebiete am besten verwaltet.
Über Nacht galten in Indien andere Spielregeln. Millionen Menschen in abgelegenen Dörfern und tief im Herzen unberührter Wälder, von denen manche noch nie von Berlin oder der Sowjetunion gehört hatten, hätten sich nie träumen lassen, wie sehr die Ereignisse in weiter Ferne ihr Leben beeinflussen würden. Die indische Wirtschaft öffnete sich dem internationalen Kapital. Gesetze zum Schutz der Arbeiter wurden abgeschafft. Die Ära der Privatisierung und der Strukturanpassung begann.
Heute stehen die Begriffe ‚Fortschritt’ und ‚Entwicklung’ für eine ‚Wirtschaftsreform’, die Deregulierung und Privatisierung bedeutet. ‚Freiheit’ meint ‚Auswahl’, und es geht nicht mehr um den menschlichen Geist, sondern um verschiedene Deodorantmarken. Der ‚Markt’ ist nicht länger ein Ort, den man aufsucht, um sich mit Vorräten zu versorgen, sondern ein entterritorialisierter Raum, in dem gesichtslose Unternehmen Geschäfte machen und, unter anderem, ‚Futures’ kaufen und verkaufen. ‚Gerechtigkeit’ meint ‚Menschenrechte’ (von denen, so sagt man, ‚ein paar reichen’). Dieser Diebstahl der Sprache, diese Usurpation von Worten, die wie Waffen eingesetzt werden, um Absichten zu verschleiern und die jetzt genau das Gegenteil von dem bedeuten, was sie einst besagten, ist einer der brillantesten strategischen Siege in diesem neuen System. Die Kritiker werden marginalisiert, indem man ihnen die Sprache nimmt, mit der sie Zweifel vorbringen könnten. Man diskreditiert sie als ‚Feinde des Fortschritts’, ‚Gegner der Entwicklung’, ‚Anti-Reformer’ und natürlich ‚Feinde der Nation’.
Man erklärt sie zu Verweigerern der übelsten Sorte. Wer über die Rettung der Flüsse oder den Schutz der Wälder spricht, dem hält man entgegen: ‚Glaubst du denn nicht an den Fortschritt?’ Menschen, deren Land durch Staudammbau geflutet oder deren Häuser von Bulldozern niedergewalzt werden, konfrontiert man mit der Frage: ‚Hast du denn ein alternatives Entwicklungsmodell?’ Denjenigen, die glauben, dass eine Regierung Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit garantieren muss, müssen sich den Vorwurf anhören: ‚Du bist wohl gegen den Markt!’ Und welcher vernünftige Mensch könnte wohl gegen den Markt sein?
Wir, die Schriftsteller, versuchen immer wieder, die Distanz zwischen Gedanken und Ausdruck zu verringern und unseren innersten, profundesten Überlegungen Form zu verleihen. In der neuen Sprache der Entwicklung geschieht genau das Gegenteil. Hier geht es um das Verschleiern, um das Verbergen der wahren Absichten.
Dieser Raub der Sprache erweist sich als Eckpfeiler des Versuchs, die Dinge auf den Kopf zu stellen.
Zwanzig Jahre dieser Art des ‚Fortschritts’ in Indien haben zur Herausbildung einer breiten Mittelschicht geführt, die trunken ist vom raschen Wohlstand und vom Respekt, der ihr plötzlich entgegen gebracht wird. Gleichzeitig ist eine wesentlich größere, verzweifelte Unterschicht entstanden. Millionen Menschen wurden durch Überschwemmungen, Dürrekatastrophen und Verwüstung in Folge massiver Eingriffe in die Umwelt – riesige Infrastrukturprojekte, Staudämme, Minen und Sonderwirtschaftszonen – besitz- und obdachlos. Die angeblich im Interesse der Armen ergriffenen Maßnahmen dienen in Wirklichkeit nur den immer größer werdenden Bedürfnissen der neuen Aristokratie.
Im Zentrum der indischen Debatte über ‚Entwicklung’ steht der Kampf um das Land. Der ehemalige Finanzminister P. Chidambaram stellt sich vor, dass 85 Prozent der Bevölkerung in Städten leben soll. Die Verwirklichung der ‚Vision’, die er der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr präsentierte, erfordert soziales Engineering in unvorstellbarem Ausmaß: Fünfhundert Millionen Menschen müssen überzeugt oder gezwungen werden, vom Land in die Städte zu migrieren. Diesen Prozess kann Indien nur als Polizeistaat umsetzen: Menschen, die sich weigern, ihr Land aufzugeben, werden mit Waffengewalt vertrieben. Chidambarams ‚Vision’, die im Grunde ein Albtraum ist, impliziert die Räumung riesiger Landstriche und die Übergabe aller natürlichen Ressourcen Indiens an die Konzerne.
Schon jetzt verwüsten marodierende Multis die Wälder, Berge und Gewässer mit Hilfe eines Staates, der jegliche soziale Bindung aufgegeben und sich dem ‚Ökozid’ verschrieben hat. Im Osten des Landes werden komplette Ökosysteme durch den Abbau von Bauxit und Eisenerz zerstört. Fruchtbarer Boden wird zur Wüste. Im Himalaya sind hunderte Mega9 Staudämme geplant. Mit katastrophalen Konsequenzen. In den Ebenen werden unter dem Vorwand des Hochwasserschutzes die Flüsse kanalisiert. Dadurch heben sich die Flussbetten, die Flüsse führen mehr Wasser und treten wesentlich häufiger über die Ufer, als in der Vergangenheit. Der Salzgehalt der landwirtschaftlichen Böden steigt, und die Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird vernichtet. Die meisten heiligen Ströme Indiens, darunter der Ganges und der Yamuna, sind zu ganz und gar nicht heiligen Senken geworden, in denen mehr Schmutz- und industrielle Abwässer fließen, als Wasser. Kaum noch ein Fluss folgt seinem ursprünglichen Lauf und fließt ins Meer.
Nachhaltige Getreidesorten, die den lokalen Bodenbedingungen und dem jeweiligen Mikroklima angepasst sind, werden durch wasserzehrende Hybride und genetisch modifizierte Cash-Crops ersetzt. Diese steigern nicht nur extrem die Abhängigkeit von den Märkten, sondern benötigen auch riesige Mengen von chemischem Dünger, Pestizide, Bewässerungskanäle und Grundwasser. Misshandlung und chemische Produkte laugen das Ackerland aus, bis dieses schließlich unfruchtbar wird. Die Kosten für die landwirtschaftliche Produktion steigen, und die Kleinbauern geraten in die Schuldenfalle. In den letzten Jahren haben über 180.000 indische Landwirte Selbstmord begangen. Während die mit langsam verrottenden Lebensmitteln gefüllten staatlichen Getreidesilos zu Bersten drohen, leidet das Land Hunger und Unterernährung. Die Lage ist mit der afrikanischen Subsahara-Region vergleichbar.
Eine alte Gesellschaft, die unter dem Gewicht von Feudalismus und Kastenwesen zu kollabieren begann, ist in den Strudel einer riesigen Maschinerie geraten. Angesichts der traditionellen, teils neu kalibrierten und zunehmenden Ungleichheit, droht die Gesellschaft auseinander zu brechen. Im Zerfallsprozess bildete sich eine dünne Schicht fetter Creme auf einer großen Menge dünnen Wassers. Die Creme sind die vielen Millionen Verbraucher auf dem indischen Markt, die Autos, Handys, Computer und Grußkarten zum Valentinstag kaufen und den Neid der internationalen Geschäftswelt hervorrufen. Das Wasser bleibt dagegen bedeutungslos. Gleichgültig, ob es herumschwappen darf oder in Rückhaltebecken gestaut wird: Am Ende wird es abfließen und zurück bleibt ausgetrockneter Boden.
Zumindest schien dies der Lauf der Dinge zu sein – bis der Krieg im indischen Kernland ausbrach und Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen erfasste.
Doch kehren wir zurück ins Jahr 1989. Als wollte sie die Verbindung zwischen ‚Einheit’und ‚Fortschritt’ illustrieren begann die rechtsgerichtete Bharatya Janata Partei (BJP) ihre massive Kampagne des Hindu-Nationalismus (Hindutva) just als die Regierung der Kongresspartei den indischen Markt für die internationale Finanzwelt öffnete. Das Hindutva-Projekt ist weitgehend das Produkt der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), ideologischer Kern und Holding Company der BJP. Die RSS wurde 1925 gegründet und nach dem Muster des italienischen Faschismus gestaltet. Auch Hitler war, und ist, ihr Inspiration. So heißt es in M.S. Golwalkers RSS-‚Bibel’ Wir, oder: Definition unserer Nation:
Seit jenem schrecklichen Tag, als die Moslems Hindustan erreichten, bis heute, kämpfte die Hindu-Nation heldenhaft gegen diese Plünderer. Der Geist der Rasse ist erwacht.
Und weiter:
Um die Reinheit der Rasse und Kultur zu wahren schockte Deutschland die Welt, indem es das Land von den semitischen Rassen säuberte – den Juden. Rassenstolz in höchstem Maß manifestierte sich hier … eine gute Lektion für uns in Hindustan.
Lernen und nutzen wir sie!
Die RSS hat heute über 45.000 shakhas (Abteilungen) und eine Armee von mehreren Millionen swayamsevaks (Freiwilligen), die ihre Lehre überall in Indien verbreiten. In ihren Reihen finden sich so prominente Mitglieder wie der ehemalige Premierminister Atal Bihari
Vajpayee, der Oppositionsführer L. K. Advani und der dreimalige Ministerpräsident von Gujarat Narendra Modi. Zu ihren nicht offiziellen Anhängern zählen wichtige Vertreter der Medien, der Polizei, Armee, des Geheimdienstes, der Justiz und der Verwaltung.
1990 reiste der Führer der BJP L.K. Advani durch das Land und schürte den Hass gegen Muslime. Er forderte den Abriss der Babri Masjid Moschee, die im 16. Jahrhundert an einer umstrittenen Stelle in Ayodhya gebaut worden war, und die Errichtung eines Ram Tempels am gleichen Standort. 1992 zerstörte ein von Advani angefeuerter Mob die Moschee. Anfang 1993 wütete ein weiterer Mob durch Mumbai, griff Muslime an und tötete fast eintausend Menschen. In einem Racheakt explodierten darauf mehrere Bomben in der Stadt. 250 Menschen starben. Die BJP profitierte von der Massenhysterie, die sie selbst provoziert hatte, und errang 1998 im Zentrum den Wahlsieg über die Kongresspartei.
Es ist kein Zufall, dass die Hindutva-Bewegung genau in dem historischen Augenblick stark wurde, in dem die USA ihren Erzfeind, den Kommunismus, durch den Islam ersetzte.
Plötzlich waren die radikalen, islamistischen Mujaheddin, die Präsident Reagan noch im Weißen Haus empfangen und mit den Gründervätern Amerikas verglichen hatte, Terroristen.
Im Ersten Golfkrieg 1990 wandelte sich die indische Regierung, einst treuer Freund der Palästinenser, zum ‚natürlichen erbündeten’ Israels. Mittlerweile führen Indien und Israelgemeinsame Militärmanöver durch, tauschen Geheimdiensterkenntnisse aus und korrespondieren vermutlich auch über die Frage, wie man besetzte Gebiete am besten verwaltet.