Die Hausaussuchung in Lenggries

Essay

Autor:
Tobias Roth
 

Essay

Die Hausaussuchung in Lenggries – ein Volkslied aus Bayern und: wo der Staat nichts zu suchen hat

Die arkadischen Phantasien der Stadtbevölkerung weisen, wenn nicht in den völligen Fiktionsraum, so doch in der Zeit nach hinten, und sind in Bezug auf die Realität des Vorgestellten höchst zweifelhaft. Die topische Vorstellung vom holden Schäferleben ignoriert alles, was am Landleben harte Arbeit ist; was dem gegenüber gesetzt wird, würde man heute vielleicht mit der trivialisierten Schwundstufe des Wortes „romantisch“ umschreiben. Zum Klang der Laute segeln die gebratenen Tauben in den Hals, an den sich die seidenweichen Hände der Schäferin schmiegen, und so besteht die Hauptbeschäftigung dieser Paare (Daphnis und Cloé, Amoena und Amandus, Damon und Lisille, Lysis und Charite, Astrée und Céladon, Adonis und Rosibella, und wie sie alle heißen) hauptsächlich in Liebeshändeln. Die Diskrepanz von Hirtenleben und Schäferdichtung ist, kurz gesagt, schreiend, und eine lange Erklärung alldessen scheint kaum nötig. Allerdings bemerkenswert scheint mir, dass auch solche Dichtungen, vornehmlich aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, obwohl sie heutigen Lesern vermutlich schnell als rosafarben, pathetisch und blumig erscheinen mögen, kein geringes kritisches Potential freisetzen. Der größte gemeinsame Nenner ist hier die Kritik am Urbanen, Dekadenten und Zivilisatorischen, die aus der bloßen Verlegung in den utopischen Naturraum entsteht; die überaus scharfen Augen eines Christian Felix Weiße können dann die Steigerung sein. Die Dichter der Eklogen sind Städter: das erklärt ihre Wirklichkeitsferne ebenso wie ihre Kritikfähigkeit.

Die bayrische Volksdichtung und -musik kennt indessen eine arkadisch zu nennende Urszene und Konfliktsituation, die sich hinsichtlich der künstlerisch in ihr aktiven Trägerschicht, und dadurch auch in Bezug auf den Realismus des Arkadien stark von den klassischen Schäferdichtungen unterscheidet: die Geschichte von Wilderer und Jäger. Ihre Wirklichkeit und weitgehend deckungsgleich ihre dichterische Verarbeitung findet zwar im Oberland, in den Tälern und Gipfeln des nördlichen Alpenrandes statt, aber zumindest räumlich bis München und zeitlich bis heute erfüllt diese Geschichte die Funktion arkadischer Dichtung. Diese „arkadische Funktion“, wie ich sie verstehe, besteht in der Suggestion eines unangetasteten Naturraums und der in ihm möglichen menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung. Verbunden wird dies mit einem kritischen Impuls, der mit großer Allgemeinheit und pointierter Deutlichkeit zugleich in die jeweilige Gegenwart des urbanen, zumindest unarkadischen Lesers oder Hörers vordringt (1). Die Konstellation „Wilderer gegen Jäger“ ist nun sicherlich stärker und v.a. zeitlich näher aus einer Realität gezogen als die Eklogen des Goldenen Zeitalters – aber jene Funktion erfüllt sie doch, gerade weil sie dramaturgisch einfach ist. Der freie, weil zur Knechtschaft nicht bereite, kräftige, schlaue, treusorgende Wilderer übertölpelt ein ums andere Mal den hörigen, knechtsgeistigen, strohdummen Jäger, und ernährt so die notleidende Familie. Oder aber er wird hinterrücks und/oder grausam vom Jäger niedergestreckt: die tragische Kehrseite, die deutlicher, aber ähnlich von diesem Thema sprechen kann, nun in der Färbung: Unterdrückung, Gewalt, Verrat etc.

Gewiss wächst diese Urszene aus einem herben Leid. Aber die erdichtete Freiheit war gewiss zu manchen Zeiten so surreal nicht, und die Verspottung der Jäger ist nicht nur Verspottung, sondern auch kaum verhohlene Anklage. Mit dem Realismus wächst immer auch die konkrete Kritikfähigkeit an den Realien. Die grundlegende und hier in Frage stehende Realie ist der Versuch, das ex specie unkontrollierbare Bergland den Gesetzen des Territorialstaates (der immer ein Flachlandstaat ist) zu unterwerfen.
Der Kontrollfuror des Staates geht im Gebirge dieser Konstellation zu Grunde und/oder wird absurd, vergeblich, gewalttätig: eine Wirkung, die wiederum den Wilderer hervorbringt, plausibilisiert und triumphieren lässt, wenn auch bei schmaler Kost und sämtlicher Unbill der gebirgigen Landschaft. Dass dennoch arkadische Potential für uns kommt nicht zuletzt daher, dass die Figuren und ihre Konstellation der Zeit unterlegen ist. Der zivilisatorische Grad und (ebenfalls) Furor Europas nach dem Zweiten Weltkrieg hat eben jenes Arkadien vernichtet, erschlossen, um es polemisch zuzuspitzen: asphaltiert. Aber in anderen Gegenden der Welt wiederholt sich unter unseren Augen die Konstellation weiterhin, und wir beobachten den wiederholten Versuch, sie unmöglich zu machen (zu asphaltieren), aufgebläht und bestialisiert in den Dimensionen des Krieges – und dennoch zum Scheitern verurteilt.

Um genauer auszuführen und am Beispiel zu zeigen, was bis jetzt angeschnitten wurde, möchte ich ein bayrisches Volkslied, namentlich „Die Hausaussuchung in Lenggries“, unter dem Neigungswinkel des momentanen Afghanistankrieges, in dem auch die deutsche Bundeswehr Krieg (2) führt, interpretieren. Ich hoffe, dass sich durch die Öffnung dieses aktualisierenden Assoziationsraumes weite Strecken der expliziten Umlegung auf Afghanistan von selbst verstehen werden.

Das Lied „Die Hausaussuchung in Lenggries“ wurde nach Auskunft des Volksmusikarchivs des Bezirks Oberbayern (3) erstmals am 7. Juni 1929 dokumentiert und vom Bauern Riesch, genannt Vordergraber, aus Lenggries erdacht, der damit beim Preissingen von Egern am Tegernsee 1930 die Jäger gehörig ärgerte. Ohne die Verdienste des Volksmusikarchivs in Abrede zu stellen, muss gesagt werden, dass die Umschrift des Lieds (4) im Dialekt ohne Rückgriff auf minutiöse, exakte Lautschrift den Ton nicht nach allen Möglichkeiten des Standardalphabets trifft. Ein möglicher Grund könnte sein, dass versucht wurde, den Text nah am Schrift-, bzw. Standarddeutschen zu halten, um überregionale Verständlichkeit wenigstens ansatzweise zu gewährleisten. Unter dem Einfluss der Dialektgedichte H.C. Artmanns und ihrer kongenialen Graphie (5) werde ich versuchen, dem Klang nach Möglichkeit des deutschen Standardalphabets nahe zu kommen, sowie eine schrecklich trockene Prosaübersetzung ins Standarddeutsche vorzulegen (6), die nur das überregionale Verständnis zum Zweck hat; so wird dem Text vielleicht die nötige, doppelte Ehre erwiesen werden können. Meine Textgrundlage orientiert sich hier in Lautung und Textbestand vornehmlich an der gesungenen Version des Kraudn Sepp (7), dessen Interpretation des Liedes als unschätzbares Tondokument auf der Doppel-CD Sonntag veröffentlicht wurde.


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