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Prosa
Ankunft in Marokko - eine autobiographische Skizze
Unsere erste Reise nach Marokko fiel in das Jahr 1982 und war eine Gruppenfahrt; genau genommen: die gängige Königsstädte-Tour, Rabat, Meknés, Fes und Marrakesch – das ganze Programm in 10 Tagen. Schon dieser erste Satz ist nicht ganz wahr. Tatsächlich flogen wir drei Wochen früher, um dann die Gruppe zum vereinbarten Zeitpunkt am Flughafen in Casablanca zu treffen. Wir landeten in Casa, nahmen ein kleines Hotelzimmer, verbrachten zwei Tage dort, schnupperten ein wenig in den Basaren, die diese uns so europäisch erscheinende Metropole zwischen Hochhäusern und Fußgängerzonen zu bieten hatte, um dann mit dem Überlandbus weiterzufahren in Richtung Süden, wo wir uns zum Auftakt unserer drei Wochen ein wenig Strand gewähren wollten. Als Stadt war Agadir enttäuschend, entsprach es doch so ganz den Bildern der Neckermann-Hochglanzprospekte und damit einem Reisen, mit dem wir wenig zu tun haben wollten. Hübsch hingegen war das kleine Hotel, auf dessen Terrasse wir morgens unser Frühstück einnahmen: Ruhe und Muße, begleitet von den Stimmen der Sperlinge, die durch den Hof flatterten. Wir blieben vier Tage. Morgens saß am Tisch gegenüber ein schweigsamer, gemütlich wirkender Marokkaner. Am dritten Tag sprach er uns an. Er hieß Ahmet, wohnte in den Niederlanden, gar nicht weit von uns entfernt, erzählte ein bisschen von seiner Arbeit und dass er hier Urlaub mache. Natürlich sprach er deutsch, wie fast alle Niederländer, was uns, weil wir seine Sprachkenntnisse nicht erwidern konnten, doch etwas peinlich berührte. Ihm machte es nichts aus. Am vierten Tag sagte er: „Ich fahre heute nach Essaouira, das ist eine schöne Stadt. Kommt ihr mit?“ Wir kamen mit. Vorher packten wir schnell unsere Rucksäcke, zahlten wie jeden Morgen das Hotel für die letzte Nacht und sagten dem Mann an der Rezeption, dass wir vielleicht in Essaouira bleiben würden, genau wüssten wir es aber nicht. Das war okay.
Ein guter Teil der 173 Kilometer von Agadir bis Essaouira ist die reinste Serpentine. Sie führt vorbei an wunderbaren Hügellandschaften, schroffen Meeresklippen, weichen Tälern sowie imposanten Felsgipfeln und macht auf ihrem Weg Kehrtwendungen nach rechts und links, sodass sich irgendwann unwillkürlich der Gedanke einstellt, die Luftlinie dieser Verbindung müsse einen Bruchteil des tatsächlichen Weges ausmachen. Wir saßen im Fond von Ahmets alten Passat, sahen draußen die skurrilen, uns wie uralte Ölbäume erscheinenden Arganen vorbeiziehen, hielten uns oft bei der Hand und sprachen nicht viel. Zwischen uns und dem Fahrer gab es, so erschien es uns, ein seltsames, vorher nie erlebtes, fremdvertrautes Gefühl des Einklangs. In einem namenlosen Dorf hielten wir an, kauften an einem der Marktstände ein Bündel Bananen, schälten und aßen sie auf der Weiterfahrt. Es waren die kleinsten Bananen, die wir jemals gesehen hatten, und wenn wir davon kosteten, stellte sich eine Empfindung ein, die jenem Gefühl ähnelte, das angesichts dieses ungewöhnlichen Einklangs mit einem Fremden Besitz von uns ergriffen hatte. Nach drei Fahrtstunden kam die geräumige, weiche Bucht von Essaouira in den Blick. Der Passat hielt auf einem asphaltierten Platz vor dem großen, ockerfarbenen Stadttor. Ahmet winkte einen der wenig offiziell aussehenden Parkwächter zu sich heran, gab ihm ein Geldstück in die Hand und versicherte uns, das sei schon in Ordnung so. Vom Hafen her wehte uns ein feiner, intensiver Meeresduft um die Nasen. Schwärme von Möwen kreisten am Himmel und stürzten hinunter auf die kleinen Boote, die von diesem Platz aus mehr zu erahnen denn zu sehen waren. Wir nahmen unsere Rücksäcke aus dem Kofferraum, widerstanden der Versuchung, als erstes den Hafen zu besichtigen, und machten uns zu dritt auf den Weg durch die Stadt.
Vielen Menschen, die nach Marokko kommen, erscheint Essaouira als die schönste marokkanische Stadt. Dabei ist es, genau genommen, in seinen heutigen Grundrissen von einem Portugiesen geplant. Vom Bab Lachour aus ziehen zwei parallele Hauptachsen durch die gesamte Medina und werden im rechten Winkel geschnitten durch zahlreiche Querstraßen – ein geometrisches System, das einem Fremden zumindest vordergründig mehr Orientierung zu bieten scheint als jenes anscheinend so undurchschaubare Geflecht der Wege und Gassen in anderen marokkanischen Städten. Wir begannen unseren Weg auf der Place Moulay Hassan, vorbei an der Terrasse des Café de France, und bogen ein in die Avenue Sidi Mohammed ben Abdallah: ein Gewirr von Essensständen, Musikgeschäften, Keramik- und Lederläden erwartete uns, vor allem aber lauter Läden mit feinen, intarsienverzierten Holzarbeiten, dessen Odeur sich, je tiefer wir eindrangen, mehr und mehr über das der Meeresluft legte, die uns immer noch vom Hafen her entgegenwehte. Als Ahmet, etwa auf mittlerer Höhe der Straße, uns mitteilte, dass er in der Seitengasse einen befreundeten Schreiner aufsuchen wolle, hatten wir längst beschlossen, in Essaouira zu bleiben. Wir verabschiedeten uns herzlich und dankbar. Leider vergaßen wir bei dieser Gelegenheit, unsere Adressen auszutauschen, und so haben wir Ahmet nie wiedergesehen.