aufgelesen [46] | Ach Europa!
Hauptwäsche Europa
Ja, Europa, dein Herz schlägt irgendwo zwischen Dijon und Paris, und dein schönes Haupt ist die Iberische Halbinsel auf dem blauen Kissen des Wassers. Dein unersättlicher Bauch ist Deutschland. Und ich? Das heißt wir? Sind wir etwa deine Lenden? Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hatte ich dieses Wort noch nicht einmal gekannt und mich wie ein Fisch im Wasser, wie Gulliver beim Besuch der Königin von Brobdingnag gefühlt, wenn ich stundenlang über deinem Bild wie über etwas Verbotenem brütete. Der rechte Schenkel ist die Ukraine und der linke Skandinavien. Lange herbstliche Nachmittage, die ich über dem Schulatlas auf der Suche nach deinen Schlagadern verbrachte: Donau, Seine, Rhein und Dnjepr. Ich spürte ihren Puls unter der grün-goldenen Haut der Ebenen und Hochflächen. Heute bin ich längst erwachsen und streue Pulver in die Waschmaschine. Ich stelle das Programm ein und beginne zu lesen: Danilo Kiš, Bohumil Hrabal, Joseph Roth, Dubravka Ugrešic, Fuhrleute von Péter Esterházy, Jakub Deml, Miodrag Bulatovic, Ioan Groşan und Bildungsroman von Krzysztof Varga.
Ich lese das alles, weil es Nacht ist, es draußen nichts zu sehen gibt und keine Reise bevorsteht. Ich lese eine Seite, eineinhalb, lege das Buch zur Seite und nehme das nächste, weil die Literatur die Geschichte und auch die Geographie nachahmt, und in diesem Fall muss sie sich aus Fragmenten, aus Bruchstücken, aus Blicken aus dem Auto zusammensetzen, weil es bei uns unmöglich ist, eine lange, sinnvolle Erzählung zu komponieren, die nicht langweiliger und glaubwürdiger wäre als das Leben und die Welt. Ähnlich schwierig und für andere vielleicht sogar unmöglich ist es, in unseren Sprachen mehr zu sagen, als in der Gebrauchsanweisung auf einer Packung Waschpulver. Ja, Europa, ich habe das Programm »Hauptwäsche« eingestellt, Temperatur 60 Grad, und jetzt kann ich die nächsten zwei Stunden über dich nachdenken. Draußen herrscht Frost, und der Mond hängt im Süden, irgendwo über Hidasnémeti.
Dein Leib setzt sich aus Namen zusammen, und die Liebe besteht darin, dass die Worte mehr bezeichnen, als sie in Wahrheit bedeuten.
Andrzej Stasiuk in »Mein Europa«, einem Essay über Mitteleuropa (Suhrkamp 2004), der Reiseaufzeichnungen, Erinnerungen an ein östliches Europa und gesellschaftspolitische Zukunftsvisionen ineinander webt. Geboren wurde der Schriftsteller 1960 in Warschau, viele seiner Schriften tragen einen politischen Charakter, der mal mehr, mal weniger offensichtlich zu Tage tritt. 2016 wurde Stasiuk mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet; seine Vorstellung von Mitteleuropa in ein Wappen gebracht: »Wenn ich mir für Mitteleuropa ein Wappen ausdenken müsste, würde ich in die eine Hälfte Halbdunkel und in die andere Leere tun. Das erste als Zeichen der Unselbstverständlichkeit, das zweite als Zeichen für den nach wir vor nicht gezähmten Raum. Ein schönes Wappen mit etwas undeutlichen Konturen, die man mit seiner Vorstellung ausfüllen kann. Oder mit Träumen.«
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