Dichtertotenbriefe

Briefe an K wie Kafka

Gabriele Frings schreibt an Franz Kafka

AN FRANZ, DEN (EIN-)SEHER

Zunächst, lieber Franz, muss ich hier noch einmal dein äußerst melancholisches Gedicht zitieren: „In der abendlichen Sonne / sitzen wir gebeugten Rückens / auf den Bänken in dem Grünen. / Unsere Arme hängen nieder, / unsere Augen blinzeln traurig. // Und die Menschen gehn in Kleidern / schwankend auf dem Kies spazieren / unter diesem großen Himmel, / der von Hügeln in der Ferne / sich zu fernen Hügeln breitet.“

Ich sehe, du trennst mal wieder zwischen „wir“, der inneren Welt und „Menschen in Kleidern“, der äußeren Welt – also auch hier deine dir so wichtige Metapher vom „angekleideten Körper“. Du hattest sie zuerst 1906 in den Hochzeitsvorbereitungen ausgearbeitet: für die weltlichen Geschäfte wird der angekleidete Körper, dein von dir sogenanntes „man“, hinausgeschickt, das Ich hingegen bleibt daheim.

Später hattest du dir diese Vorstellung der Selbstentsicherung – ich will mal sagen: käferfein ausgemalt. Dein alter ego Gregor, auf den Rücken geworfen, schaut dem Zeitgeschiebe und Raumgedränge seiner Zeitgenossen zu, die ganz in das auf wirtschaftlichen Profit ausgerichtete System verstrickt sind (und du, wie du selber beklagtest, durch deine Versicherungstätigkeit auch). Was für eine unglaubliche Vision – das äußere Ich abtrennen, um dem inneren wahren Ich näherzukommen! So tief war offenbar dein „Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit. Nur mir gegenübergestellt sein“, wie du 1913 notiertest. Hm, das nackte Ich also, das sich dann jedoch allein in der Welt zurecht finden muss –  aber ist dies nicht unglaublich schwer, frage ich dich? Ja, das siehst du ein, wie ich deinem Brief vom Juli 1922 an Max entnehme: dir wurde doch bewusst, „auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden ich lebe, über einem Dunkel … Das Schreiben erhält mich, aber ist es nicht richtiger zu sagen, daß es diese Art Leben erhält? Damit meine ich natürlich nicht, daß mein Leben besser ist, wenn ich nicht schreibe. Vielmehr ist es dann viel schlimmer und ganz unerträglich und muß mit dem Irrsinn enden.“

Einige Jahre früher hattest du bereits überlegt, dass der Mensch einer solchen Spaltung recht hilflos ausgesetzt ist. In deinem Gedicht Sechzehnter Januar, das du 1910 schriebst und das auf mich sehr bedrückend wirkt, benutzt du das Bild von den zwei Uhren, die nicht übereinstimmen: „Die Innere jagt in einer teuflischen oder / dämonischen, oder jedenfalls unmenschlichen / Art. Die Äussere geht stockend ihren / gewöhnlichen Gang. Was kann andres / geschehn als daß sich die zwei / verschiedenen Welten trennen…“. Ich muss dir absolut zustimmen, wenn du die Gefahr solch einer Trennung zu bedenken gibst, dass nämlich die daraus resultierende Einsamkeit zum „Äußersten“ führen kann: „…Sie kann, / dies scheint am zwingendsten, zum Irrsinn führen.“ Doch davor bewahrte dich selber offenbar das Schreiben. Und ich glaube zu erkennen: du hast wohl auch geschrieben, um dich selbst zu finden und zu verstehen, oder? Wenn ich so dein Gedicht lese… (ich muss es nochmal zitieren: „Ich kenne den Inhalt nicht / ich habe den Schlüssel nicht / ich glaube Gerüchten nicht / alles verständlich / denn ich bin es selbst“).

Ja, das Schreiben. Deine Sprache, im trockenen Pragerdeutsch deiner Zeit wurzelnd, wurde – wie du ja sicherlich noch weißt – schon von deinen Zeitgenossen als wortarm, papieren, nicht ‚erdgewachsen‘ charakterisiert. Nur so ein Gedanke: was, frage ich dich an dieser Stelle, würdest du dazu sagen, wenn wir uns in unserem Weltaneignungshabitus ganz zurückentwickelten, in eine vorsprachliche Zeit zurückfielen, indem wir uralte Gesten benutzten wie Zeigen, Berühren und Erkennen der Dinge? Du glaubst, das sei unmöglich? Oh nein, mein Lieber, wir leben jetzt in einer Zeit, in der die Menschen eine handgroße Maschine benutzen, um miteinander, meist schriftlich, zu kommunizieren und sich die Welt anzueignen. Über diese Maschine fahren sie mit ihrem Finger und erfassen die Dinge, natürlich nur ihre Abbildungen, ihre Modelle. Für die Menschen deiner Zeit war der in deiner Sprache erstmals so genannte robota, der Maschinenmensch, schon eine schier unglaubliche Vision (du wirst es wohl wissen: im Theaterstück R.U.R. von deinem Landsmann Karl Čapek aus dem Jahr 1920 wurde dieser Begriff, von seinem schriftstellerisch tätigen Bruder Josef kreiert, zum ersten Mal benutzt. Eine Frage am Rande: hattest du eigentlich persönlichen Kontakt zu diesen Brüdern Čapek? In den mir bekannten Büchern habe ich nichts darüber gefunden. Mir scheint es jedenfalls so, denn in deinem – wie immer melancholischen – Dezember-Gedicht Kühl und hart lässt du die Gleichung Mensch-Maschine anklingen, wenn du schreibst: „Kühl und hart ist der heutige Tag … Die Menschen erstarren. / Die Schritte klingen metallen / Auf erzenen Steinen.“). Seit deiner Zeit wurde dann die wie ein Mensch agierende Maschine allmählich in die Wirklichkeit integriert. Heute hat sich diese Entwicklung ebenso umgekehrt: der Mensch wird in eine künstliche, virtuelle Welt, in den sogenannten Cyberspace, eingespannt.

Wenn du wüsstest, wie sehr der Mensch heute mit den von ihm erfundenen handlichen Kommunikations-Maschinen verschmolzen ist – an allen denkbaren Orten menschlicher Sesshaftigkeit siehst du, wie seine Finger über das Gerät fliegen und seine Augen starr darauf gerichtet sind als sei er mit ihm vernabelt, als saugte er seinen Lebenssaft daraus. Dieses Gerät hat uns längst in Besitz genommen (manche meinen immer noch, es sei umgekehrt). Du hast diese generelle Entwicklung, wie mir scheint, vorhergesehen, wenn du in der Strafkolonie den „Apparat“ beschreibst, wie er „sich von selbst so einstellt“, dass seine Spitzen dem Leib des Verurteilten die Strafe einschreiben. Die vom menschlichen Geist erfundene selbständig arbeitende Maschine – der Automat, wie dein erwähnter Kollege in Prag, Josef Čapek, sie erstmals in seinem Buch Lelio von 1917 nannte – bemächtigt sich ihres Urhebers, verleibt sich ihn buchstäblich ein. Sterben dadurch, dass wir beschrieben werden – also, was du dir einfallen ließest! Und soll ich dir etwas sagen? Heute werden wir tatsächlich beschrieben! Mit digitalen Daten nämlich und zwar so massiv, dass es bereits heißt, wir werden in ein digitales Ich und ein reales Ich aufgespalten und wir selber vertrauen, z. B. in der Medizin, dem digitalen Ich mittlerweile mehr als dem realen Ich. Siehst du, da ist sie wieder, deine personelle Spaltung. Du wirst jetzt die digitale Person sicherlich als das äußere Wesen sehen, die reale als das innere, nehme ich an. Wobei die Menschen heute viel dafür tun, das innere Ich im äußeren aufscheinen zu lassen, um doch noch ein wenig als ganze Person wahrgenommen zu werden.

Apropos – und da wir ja vom Schreiben sprachen – in einem kann ich dir nicht zustimmen, Franz: dass es teuflisch sei, wie du in jenem Brief von 1922 an Max darlegst, wenn wir auch aus „Eitelkeit und Genußsucht“ schreiben. Wir Literaten geben es zwar nicht gerne zu, aber bei den meisten von uns ist es wohl so: wir schreiben auch aus dem Wunsch heraus, Anerkennung zu bekommen, zu gefallen, und sehnen uns damit letztlich nach Wahrnehmung der ureigenen Persönlichkeit, des inneren Ich durch unsere Umwelt. Aber teuflisch? Es ist menschlich, Franz, menschlich…

Deine Gabriele Frings

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