Dichtertotenbriefe

Briefe an G wie Stefan George

Rainald Simon schreibt an Stefan George

Lieber Stefan George, nein das geht gar nicht, viel zu vertraulich, also: Hehrer Meister, das geht auch nicht, ich lebe im 21. Jahrhundert, also ganz konventionell:

Sehr geehrter Herr George,

Sie haben in einem Ihrer Frühwerke mit dem an „Tausend und eine Nacht“ erinnernden schönen Titel: „Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten“ ein fast perfektes Gedicht veröffentlicht, 1894, kurz vor Beginn des schrecklichen 20. Jahrhunderts, das Sie 1933 in den Wald von Tusferi nach einem guten Mahl (Entenbrust, dazu Wein vom Rhein, verdünnt, denn sie waren ja moribund) verließen. Nur fast perfekt, ich nehme mir heraus, ihnen einen Makel zu zeigen, einen kleinen, aber hörbaren, er ist dem Reimzwang geschuldet, aber zuerst bitte ich Sie, das Gedicht in Ihrer besonderen Art vorzulesen, von der es leider kein Tonzeugnis gibt, die aber als sehr besonders gerühmt wird, seitdem Sie bei Familie Lepsius 1896 in Berlin lasen:

Sprich nicht immer
Von dem laub.
Windes raub.
Vom zerschellen
Reifer quitten
Von den tritten
Der vernichter
Spät im jahr.
Von dem zittern
Der libellen
In gewittern
Und der lichter
Deren flimmer
Wandelbar.1

Es ist reine Wortmusik, Schönklang. Sie entwerfen fünf Herbstszenen, die zu erwähnen, Sie einem Gegenüber untersagen. Vermutlich handelt es sich um eine Frau, denn Frauen verwenden in nicht ganz friedlichen Gesprächen oft eine Formel, die mit „Immer (handelst du so und so…)“ beginnt. Aber das ist eine nicht ganz ernst gemeinte Behauptung. Sie wollen nicht an den bevorstehenden Einbruch des Winters, der für Vergänglichkeit steht, erinnert werden. Ihr um zwanzig Jahre jüngerer Kollege Gottfried Benn, dessen Gedichte Sie vermutlich als unlesbar empfanden, fasst das Problem ein wenig spöttischer, indem er schrieb: „Die Marktfrau verpantarheit die Kohlrabi“ oder so ähnlich. Verpantarheien? Sie verstehen den Bennschen Neologismus, schließlich besuchten Sie das Ludwig Georg-Gymnasium in Darmstadt und waren an Sprachen interessiert. Ich erkläre es aber dennoch, vielleicht ist ja Maximin, der Bayer, bei Ihnen in Tusferi und ob er es versteht? Panta rhei πάντα ρεἷ „alles fließt“ ist einer der von dem dunklen Heraklit überlieferten Splitter. Sie erwähnen irgendwelche „vernichter“, die das hässliche Werk gewaltsam mit „tritten“ ausführen. Transzendente finstere Mächte?

Sie wählten 14 zweitaktische Trochäen ⁄ ᵕ⁄ ᵕ (betont, unbetont, betont, unbetont), vier Verse, nämlich der zweite, dritte, achte und vierzehnte enden mit einem unvollständigen Versschluss (katalektisch), ihnen fehlt eine unbetonte Silbe (betont, unbetont, betont). Ihre Reimstruktur ist komplex:

a b b c d d e f d c d e a f,
die ersten 6 Verse bieten eine starke Gleichmäßigkeit, die aber mit Hilfe der beiden katalektischen Verse 2 und 3 aufgelockert wird
a b b c d d.
Der zweite Teil
e f d c d e a f

ist ungeordneter, freier und wird vor allem durch den Gegenreim zum allersten Reimwort „immer“ im vorletzten Vers „flimmer“ angebunden. Sie verdichten das Wörtergewebe durch die übrigen Reime, insbesondere durch die „f“-Reimung „jahr -wandelbar“. So vermeiden sie trotz der strengen Konstruktion den Eindruck von Erstarrung, es entsteht ein lebendiger Rhythmus, eine gewisse Unruhe, die dem beunruhigenden Geschehen (zerschellen, tritte, vernichter, zittern, gewitter, flimmern) auf gekonnte Weise entspricht. Wie lange, Herr George, haben Sie an dem Text gearbeitet? Einer Ihrer jungen Nachfolger in der Gilde der Poeten, Jan Wagner, nennt Sie zu Recht einen „Sprachmeister“:

Er ist ja zweifellos ein Meister, was das Handwerkliche angeht. Der Umgang mit dem Rhythmus, mit dem Reim, verschiedene formale Kniffe, (…) oder wenn er mit Alliterationen arbeitet, mit Reim, ist eine ungeheure Musik in George, auch im Spätwerk natürlich, überall ist die Musik und diese große handwerkliche Kunst spürbar, das ist ja meisterhaft, ganz ohne Zweifel.
(Zitat Ende)2

So weit so gelungen, aber da ist der kleine, irritierende Makel in einem Reim und zwar „c“ „zerschellen -libellen“. Quitten sind eine wunderbare Frucht, ihr Gelb und ihr Duft sind außerordentlich, eine einzige Frucht erfüllt mit ihrem Duft einen ganzen Raum. Sie sind sehr hart, aber sie zerschellen nicht, niemals. Es gibt war eine Photographie, die Sie mit Anhängern in einem Marburger Garten zeigt, aber ich bin sicher, Sie pflegten niemals einen Quittenbaum, sie stehen nämlich mit schwarzen Lackschuhen auf der Scholle. Das Verb „zerschellen“ passt einfach nicht, der Reim passt, aber inhaltlich ist es gezwungen, „schräg“. Schlagen wir das Grimm´sche Wörterbuch auf, Sie mögen die Brüder, von denen Sie ihre konsequente Kleinschreibung übernahmen:

zerschellen, verb., 1) mit schall zerspringen, von dem starken mhd. verbum schëllen schallen, schallend bersten

(…)
hier der köstlichen eier mit müh gespareter vorrath,
fünfzig, ein jegliches frisch und lauter wie gold, nun zerschollen

G. v. Gaal (1819) (…);

(…)
sehr geläufig von schiffen an klippen: S. Mereau (…); Tieck (…);
nach Luthers bibelverdeutschung auch vom menschen: wer auf diesen stein fellet, der wird zurschellen Matth. 21, 44;

(…)
und unten zerschellt das gerippe
Göthe (…);

(…)
bedenk, auf ungetreuen wellen,
wie leicht kann sie der sturm zerschellen,
schwimmt deiner flotte zweifelnd glück

Schiller (…);

(…)
an einer marmorsäule, da hat er sie (die harfe) zerschellt
Uhland (…);

das bein z. Stieler; als ob rosz und reiter sich das haupt z. sollten an den harten buchenstämmen H. Laube (…);

(…)
welch feuriges wunder erklärt uns die wellen,
die gegen einander sich funkelnd zerschellen?

Göthe (Faust 8475; auch 8472) (…);3

Der Reim übt auch auf Sie, den Meister, seinen Zwang aus, er scheint stärker zu sein als Ihr Sprachgefühl. Andererseits ist solch eine kleine Irritation in Ihrem schönen Gewebe wie ein barockes Schönheitspflästerchen im Antlitz der Schönen, absolute Perfektion ist vielleicht gar nicht anstrebenswert.

Ein weiteres frühes Gedicht, das ich als 14jähriger Wandervogel in einer gelungenen Vertonung kennen lernte, die mich magisch berührte:

Vogelschau

Weisse Schwalben sah ich fliegen
Schwalben schnee- und silberweiss.
Sah sie sich im winde wiegen.
In dem Winde hell und heiss.

Bunte häher sah ich hüpfen.
Papagei und kolibri
Durch die wunder-bäume schlüpfen
In dem Wald der Tusferi.

Grosse Raben sah ich flattern.
Dohlen schwarz und dunkelgrau
Nah am grunde über nattern
Im verzauberten Gehau.

Schwalben seh ich wieder fliegen.
Schnee- und silberweisse schar
Wie sie sich im winde wiegen
In dem winde kalt und klar.4

Dieses Mal wählen Sie den vierhebigen Trochäus und zwar in vollkommener Regelmäßigkeit über alle 4 Strophen und 16 Verse hin. Die liedhafte Wirkung erreichen Sie auch mittels des Kreuzreims, der die Struktur
a b a b / c d c d / e f e f / a g a g
aufweist.

Wie man sieht, fügen Sie Anfang und Ende des Gewebes gekonnt aneinander, indem Sie am Ende das Reimpaar des Anfangs „fliegen – wiegen“ wiederholen. Ein meisterlicher Bau, ein sanglicher Klang. Der Gegenreim „gehau“ zu „dunkelgrau“ irritiert zunächst, gehau ist auch gar nicht im 10bändigen Duden von 1999 enthalten, allerdings im Grimmschen Wörterbuch und dort als ein „wesentlich försterwort“ bezeichnet, so werde „ein stücke wald genennet, da das holz vor kurzer zeit weggehauen worden und wieder junges holz aufwachsen will“. Sie bleiben im Wortfeld des Waldes. Ich frage mich nur, wie Sie auf das seltene Wort gekommen sind, vielleicht besaßen Sie ja das Bändchen „Gedichte“ von J. G. Salis, Carlsruhe 1799, in dessen Gedicht „Die Einsiedelei“ unter dem auch sehr gut auf Ihre „Vogelschau“ passenden Motto-Vers des Horaz „Amat nemus et fugit urbes“ (Er liebt den Wald und flieht die Städte…) es in der dritten Strophe heißt:

Durch des Gehaues Stumpen,
Wo wilde Erdbeeren stehn,
Klimm‘ ich auf Felsenklumpen,
Das Land umher zu sehn.

Andererseits dürfte ein großer Dichterkollege des 20. Jahrhunderts, der Sprache allerdings eher dekonstruiert als konstruiert, Ihr Gedicht gekannt haben, Sie wurden in Rumänien und sicher auch im österreichisch-ungarischen Cernowitz gelesen. Paul Celans berühmtestes Gedicht beginnt mit „Schwarze Milch der Frühe (…)“ und entspricht als Oxymoron und in der metrischen Konstruktion genau Ihrem Anfang „Weisse Schwalben sah ich (…)“. Solche Anfänge prägen sich ein, aber es handelt sich natürlich nur um eine Vermutung.

Selbstverständlich kannten Sie „Hälfte des Lebens“ von Friederich Hölderlin. Norbert von Hellingrath, 1888-1916, der Wiederentdecker Hölderlins, gehörte zu Ihrem Kreis. Lese ich Ihre Schlussverse Wie sie sich im winde wiegen / In dem winde kalt und klar, denke ich also an die Schlussverse in Hölderlins Gedicht: „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ Wie bei Hölderlin verändert sich im Ablaufe des Textes etwas ums Ganze: Aus Ihrem hellen und weißen Wind wird ein kalter und klarer und auf Hölderlins Lebens- und Liebesfülle folgt die existentielle Erstarrung, für die der kalte Wind steht. Hölderlin wird kurz nach der Konstruktion seines Textes mit einem Kurzaufenthalt in der Autenriethschen Klinik in den Tübinger Turm verschwinden, seine existentielle Krise nach dem Verlust seiner Diotima, jener Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard, war wohl auch heftiger als Ihr merkwürdig leibfeindliches Verhältnis zu Ihrer damaligen Muse Ida Coblenz. Aber es mag auch sein, dass Sie aus dem von den weißen und farbigen exotischen Vögeln bewohnten Paradies des Waldes der Tusferi vertrieben wurden, 20 Jahre vor den Stahlgewittern des I. Weltkriegs, Sie waren gerade einmal 24 Jahre jung, 1892, als Sie das Gedicht der Sammlung Algabal schrieben. Ich bin nicht der Meinung wie ungenannte Literaturwissenschaftler der Universität Kiel, dass Ihr Text vollkommen bar jeder Semantik sei:

In Vogelschau wird noch mal deutlich, dass die Semantik keine Rolle mehr spielt und es allein um die Musikalität des Ausdrucks geht (Klang - Melodie - Rhythmus).5

Ihr Wortgewebe wirkt zwar wie ein aus dem Traum oder Rausch geborenes sprachliches Ornament, an ein Mosaik des Jugendstils erinnernd oder ein Gemälde Gustav Klimts, 1862-1916, aber es scheint doch auch eine Haltung des Eskapismus in „schöne Räume“ auf, die jedenfalls nichts mit der gesellschaftlichen Moderne zu Beginn des 20 Jahrhunderts gemein hatten. Tusferi ist vermutlich gebildet aus lateinisch tus, turis n. Weihrauch und ferre, tragen, bedeutet also so viel wie „Weihrauchträger“. Ihr „Wald der Weihrauchträger“ ist ein betörend duftender phantastischer Ort, in dem die bunten Vögel herumschwirren. Ist es der Raum der Jugend?

Die Wirtschaft des Deutschen Reiches befand sich zwischen 1870 und 1914 mit der eingeführten Fließbandfertigung in der Phase der Hochindustrialisierung. Das Kaiserreich lag im Jahr 1913 mit 14,8% der Weltindustrieproduktion hinter den USA an zweiter Stelle, die weltflüchtige Jugendbewegung des 1896 in Berlin Steglitz gegründeten Wandervogels suchte weitab der modernen urbanen Gesellschaft ihre Weihrauchwälder und nahm Ihr Gedicht in ihren Liederfundus auf. Ihre Weltabgeschiedenheit in Ihrem virilen Kreis und Ihrer später ausgeprägten Privatreligion um den verehrten Maximin unterscheidet Sie von der Generation der Expressionisten. Was bei allem apolitischen Schweben in sprachlichen Rauschzuständen heute noch überzeugt, ist die Präzision Ihrer sprachlichen Konstruktion und der Wohlklang Ihrer Wortgewebe.

Ich weiß nun nicht, ob Sie, Herr George, in Ihrem wald der Tusferi Zugang zum worlwide web haben, doch wage ich als Hommage ein Gedicht anzuhängen, das einiges mitteilt, was man so von Ihnen erzählt:

Etienne
des Weinhändlers Sohn.

Ach, Etienne,
also Deine Lackschuhe,
prätentiös –
– im Garten auf klebriger Scholle,
deine süßen Knaben mit
Spaten bewehrt.

Manchmal einen Kuss auf
die Scheitel,
& ein Körnchen Weihrauch
im griechischen Tabak
& ein Gran Exotismus
in den Wörtern
(Tusferi & Algabal).

Ach, Du,
Du hast nicht gejubelt,
wie Rainer Maria,
der eine Wohnung hatte,
in Paris,
nicht gejubelt August 1914,
nicht

Depots für Dich, Etienne,
Deiner Staatsräte
mit Leibchen, Tabak & Geld.

Nomade, Du, Etienne.

Verquaster Bildschmuck,
Leuchter hier und da:
Das passte nicht zu Dir,
Deiner Strenge
& Zucht eines MANNES
Briefe öffnend
mit dem Brotmesser
& ein Entenbrüstchen mit Rheinwein (verdünnt) kurz vor dem Sterben
jenseits der Grenzen des Neuen Reiches
der Mörder,
die Dich zum Präsidenten berufen
wollten,
wo Du doch schon nach
Tusferi unterwegs warst
zu Algabal und dem geliebten Knaben
Maximin.

 

Mit vielen Grüßen
Rainald Simon

 

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