In Augenschein

zu Gast: Ulrike Draesner

Gespräche über anonymisierte Texte (Ausgabe # 004)

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe In Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, tritt nicht nur als Dichterin, sondern immer wieder auch als schreibende Leserin in Erscheinung. 1992 mit einer Arbeit zu Wolframs Parzival, genauer und bezeichnenderweise zur Intertextualität im Parzival, promoviert, hat sie sich bald darauf aus dem universitären Betrieb verabschiedet – dass sie dem Schreiben über Lektüren aber treu geblieben ist, bezeugen eine Vielzahl von Essays, gesammelt in Bänden wie „Schöne Frauen lesen“ (2007) und dem in Kürze erscheinenden „Heimliche Helden“. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Förderpreis zum Leonce-und-Lena Preis (1995), dem Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur (1997), dem Drostepreis (2006) und dem Literaturpreis Solothurn (2010).Ulrike Draesner ist Mitglied des P.E.N. Deutschland und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Seit 2001 erscheinen ihre Gedichtbände, Erzählungen und Romane im Luchterhand Literaturverlag München.

Wie lässt sich vom Stil von Gedichten sprechen?

Mich irritiert die Frage nach Stil, weil sie eine Trennung voraussetzt, die ich insbesondere bei Gedichten nicht fühle und nur intellektuell nachvollziehen kann. Das ist die Trennung zwischen Stil und Inhalt, die ich völlig unsinnig finde. Ich erfahre es beim Schreiben ganz anders: Der Inhalt existiert vorher überhaupt nicht, er entsteht erst in dem Moment, in dem ich auch einen Rhythmus und eine Form gefunden habe. Das kommt gemeinsam oder es kommt gar nicht, das ist miteinander verwoben, verwachsen, eins. Nachträglich in einer künstlich hergestellten, analytischen Situation kann ich mir vornehmen, erst auf den Stil, dann auf den Inhalt zu schauen – muss aber stets im Bewusstsein behalten, dass diese Situation künstlich ist. Natürlich ist es nützlich, etwas über Metrik, Reimschemata und so weiter zu lernen, weil sich dann ein Vokabular entwickelt, durch das man sich mit Anderen über Gedichte unterhalten kann. Aber das Bewusstsein von der Künstlichkeit der Trennung, die dem nicht gerecht wird, was ein Gedicht im Kern sein und wie es wirken kann, muss wach bleiben. Das Gedicht wirkt ja immer als Ganzes: als Semantik und Form, als Form als Semantik. Die Muster der Vokale, die Muster von Längen und Kürzen, das ist alles auch Semantik.

Natürlich, wenn der Stil wegsortiert wird, dann hängt der Inhalt am Baum wie der gehäutete Marsyas. Aber auf der anderen Seite gibt es doch das Phänomen des Personalstils, eines Tons, der wieder erkennbar ist, ohne dass es um einen bestimmten Inhalt geht, ohne dass man es nachzählen könnte?

Das ist in meinen Augen kein Widerspruch. Die Frage nach einem identifizierbaren Ton ist noch einmal etwas anderes als die reine Stilfrage. Da geht es darum, wie sich die Eigenart des Menschen, der die Texte schreibt, umsetzt in eine bestimmte Weise, gleichzeitig Sprache zu gebrauchen und die Welt wahrzunehmen. Da kommt niemand aus seiner Haut – und den armen Marsyas wollen wir nun nicht als Beispiel nehmen. Die spezifischen Neigungen, Fähigkeiten, Wahrnehmungsweisen sind so eng miteinander verdreht und verbunden: die Sprache spiegelt wieder, wie Welt aufgenommen, verarbeitet, gefühlt und gedacht wird und zugleich wirkt das Erfahrene auf den Sprachgebrauch zurück. Das sind zwei sich wechselseitig beeinflussende Systeme. Nun gibt es Dichter, deren Ton sehr deutlich hörbar ist. Gottfried Benn etwa ist so jemand, der Ton des späten Benn bringt eine ganze Welthaltung zum Ausdruck, die Ironie, aber auch die bewussten Entscheidungen für Collagestil, Kühle, Substantive. Das hört man, das erkennt man. Auf der anderen Seite gibt es Dichter, deren Ton nicht so deutlich zu unterscheiden ist oder, das halte ich für spannend, deren Töne wechseln können. Es ist unheimlich interessant, jemanden zu verfolgen, der über vierzig, fünfzig Jahre hinweg Gedichte geschrieben hat, an denen man beobachten kann, wie das Altern, die Lebenserfahrungen und der Fortschritt der Zeit sich in der Sprache niederschlagen. Das handhaben Dichter natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Manche bauen an heterogenen Wegen, andere sortieren Abweichendes in die berühmte Schublade. Ich finde es sehr bereichernd, wenn der individuelle Ton nicht zu sehr eingetaktet ist.

Aber auch der Ton wird erst im Nachhinein beobachtbar.

Ja, ein Ton bildet sich in meiner Wahrnehmung erst heraus, wenn ich eine größere Zahl  Gedichte von einer Person kenne. Dann erst kann ich es einordnen. Es gibt, auch in der Prosa, Autoren, deren Stil über Jahrzehnte hinweg gleich bleibt. Diese Kontinuität finde ich manchmal bewundernswert, manchmal erschreckend. Das meine ich wertfrei. Manche Autoren bringen aus ihrer persönlichen Geschichte diese Kontinuität mit, sie wissen, wo sie hin wollen. Andere suchen auf andere Art und Weise. Aber beides sind Suchstrategien, die völlig gleichrangig sind. Allerdings glaube ich, dass man diese Suchstrategien nicht frei wählen kann. Ich arbeite eher an verschiedenen Strängen, in verschiedenen Tunneln auf einmal. Die Gefahr ist natürlich, sich zu verzetteln oder gar nichts zu finden. Andere bauen ein Leben lang an einem einzigen Tunnel – und auch so ist das Risiko, gar nichts zu finden, groß.

Das wäre also eine Temperamentsfrage?

Temperament, Charakter, Seele, wie auch immer man das bezeichnen will. [lacht; und beginnt zu lesen]

I.

Es ist
dasselbe Wasser,
dieselbe
Mühle, nicht?

Das Meer
begann wie
ein siedender
Kessel zu sieden.

Ich erbitte
vom Rumpffaß
blutige Fleisch-
bissen (zum Fraß).

Mein Boot war
kaum vom Ufer
weggeschwommen,
da.

Ich schnitt
Bretter aus
der Wetterseite
der Lärche.

Ich suchte
ein Pfeil-
leichtes Fell
eines Pelzkalbes.

Viele vom
Eisflußwasser
beströmte
Sümpfe.

Ich
werde nicht
über den eigenen
Tod sprechen.

Darf ich hineinmalen?

Bitte!

[liest erneut mit Stift]

Ich sage zunächst, was mir auffällt. Das Gedicht ist einfach gebaut, acht schmale, strophenartige Gebilde, in „normaler“ Prosasyntax. Acht Sätze, es gibt keine Strophenenjambements. Ich würde die Sätze gerne einmal wie Prosa hintereinander schreiben und sehen, was dann passiert. Warum ist es aber so umbrochen? Da gibt es verschiedene, miteinander kombinierte Arten und Weisen, die Sätze zu rhythmisieren. Keine Reime im klassischen Sinne, aber Anaphern, Lautwiederholungen, Vokalreime, Alliterationen. Ich versuche zunächst einmal zu sehen, was für Bilder entstehen. Ich bin eine Bildleserin; zugleich eine Lautleserin. Als Bildleserin habe ich hier das Gefühl, immer wieder aus dem Bild herauszustürzen, ohne zu wissen, wohin. Die Bilder stehen nebeneinander, und ich kann mich nicht orientieren. Wie erklärt sich das, wohin führt mich diese Verfahrensweise? Zu Beginn das Wasser, die Mühle, implizit ein Bach also – dann aber plötzlich das Meer. Der Dialog, der durch die Sprachgeste „nicht?“ der ersten Strophe nahegelegt wird, wird nicht mehr aufgegriffen. Auch das hinterlässt mich mit einem Fragezeichen. Es ist schwer, auf der Bildebene Kohärenzen herzustellen. [Der Stift begleitet Strophe für Strophe mit Kringeln]Mühle, Kessel, Fass – ich sehe Behältnisse, aber fragmentarisch, in einer nicht weiter beschriebenen und zusammengesetzten Landschaft. Da ist vieles, was sich nicht erschließt, rätselhafte Neologismen. Die zusammengesetzten Substantive scheinen eine wichtige Verfahrensweise des Textes zu sein. Ich höre insgesamt eher wenig, wenig Rhythmik, nehme Anläufe war, Fragmente, Bausteine etwa von Landschaft: erst eine Mühle, dann das Meer – und plötzlich doch wieder ein Bach oder Fluss im „Eisflusswasser“. Wo bin ich? [Pause]Das will keine reale Landschaft sein, das ist jetzt klar. Aber ich verstehe noch nicht, wie sie zusammengesetzt ist – sie ist heterogen, zeigt interessante, unvertraute Elemente, aber ich möchte genauer erfahren, warum sie so aussieht. Welche Rolle oder Rollen nehmen die einzelnen Elemente ein? Die letzte Strophe bringt eine neue Irritation, sie nimmt mich völlig heraus aus der Landschaft und auch heraus aus dem Gedicht: „Ich werde nicht über den eigenen Tod sprechen.“ Eine regelrechte Beschließungsstrophe, die die große Aufgabe bekommt, wie der Schlussstein in einem Torbogen das ganze Gebilde zu halten.

Ich weiß nicht sofort, ob ihr das gelingt. Ich muss im Lesen noch einmal ansetzen, zurückgehen. Diese starke Thematisierung der Sprache, die sich in der ersten Strophe schon angedeutet hat, kehrt hier wieder, in einem Sprung, verbunden mit einer Verneinung. Sollen die vorhergehenden Strophen ein Nicht-Sprechen über den eigenen Tod gewesen sein? Ist das, sozusagen, der Schlüssel zu diesem Gedicht? Hm. Der Tod ist benannt, aber ich fühle ihn nicht. Der Text schaut darauf, der Blick erfolgt von weit außen. Das Ich des Textes steht quasi mit einem Du vor einer Lebens-Nichtlebens-Situation, die aus nicht im üblichen Sinn kohärenten Landschaftselementen herüber-übersetzt wird. Zwei Mal „über.“

Aber die Weltlandschaft ist so weiträumig, dass Mühle und Meer und Sumpf in ein Bild passen.

Ja, ein riesiger Zoom. Die Landschaft ist aber in gewisser Weise durchaus tot, unbelebt, leer, einige menschgemachte Dinge. Man sucht ein anderes Lebewesen, ein Pelzkalb. Es ist einsam: ich fühle nichts, ich höre nichts, ich sehe nur Fetzen. Weit weg: ich glaube, da spiegelt sich etwas. [accelerando]Die Distanz des Ich zu dem, was es bespricht, und die Verneinungshaltung des Ich. „Ich werde nicht.“ Das macht für mich den emotionalen Fluchtpunkt des Gedichtes aus. Vielleicht ist das der gewollte Effekt, dann passt auch die Bauform des Gedichtes dazu. Denn die dichterischen Mittel, die eingesetzt werden, sind sehr diskret und unaufdringlich. Es ist, als sähe ich lauter Rückseiten, die Rückseiten von Wörtern, die mich nicht an sich heranlassen. Es ist zäh, nichts bewegt sich: deswegen muss das Gedicht auch so schmal sein, das verstehe ich jetzt, deswegen braucht es die Wiederholungen. Darüber, über die Form und den verneinenden Sprechakt selbst, mehr als über die Bildlichkeit erschließt sich mir das Gedicht. Zusammenschrumpfende Sprache. Alle Wörter sind wie unter Eis. Als könnte man sich nur von hinten nähern. [a tempo]Ich mag es sehr, wenn sich im Laufe des Lesens und Nachdenkens Wörter verändern, dann ist es für mich ein gutes Gedicht. Genau das passiert hier. Das erste „nicht“ macht mir die Dialogform klar, das zweite zeigt mir die Vereisung der Wörter: „nicht“ ist als Zentralwort doppelt, im Inhalt des Textes und in der stilistischen Situation. Es ist eigentlich eine doppelte Vereisung.

Eine gewisse Verunsicherung und Verneinung reißt sich ja schon durch das gegenteilige ostentaive „dasselbe / dieselbe“ der ersten Strophe ein.

Genauso verhält es sich mit dem doppelten „sieden“: Wenn ich das eine „sieden“ rausnehme, sehe ich noch deutlicher, was fehlt. Da ist eine Lücke, die mit Worten, mit „dasselbe / dieselbe“, zugekleistert wird – aber in einer Art und Weise, die spürbar nicht funktioniert, die die Lücke zeigt. Ich werde aufmerksam gemacht auf die Spracharbeit, den Sprachgestus, das Umdrehen von Worten, von Wortgegenständen.

II.

es ist das trostgesicht aus moos
jetzt umgestülpt die feine
wurzelung der augen mit

erde unterlaufen das
gute braune netz der nerven
enden greift als hätte es nicht recht

verstanden in die luft & auf
den kapillaren resten eines
plötzlich weit versprengten denkens

sitzt der vogel
mit dem wurm

[schmunzelt; liest erneut]

Dieses Gedicht schwingt ganz anders in seiner Rhythmik. Es ist metrisiert, zwar mit ein, zwei Brechungen, aber im Großen und Ganzen läuft es in Jamben dahin. Es wird mit Enjambements gearbeitet, ein einziger großer Satz, der sehr schön auf das Ende zielt. Die Zoombewegungen von Bild und Gefühl laufen parallel auf den „vogel / mit dem wurm“ zu. Ich sehe das Bild und es ist alles klar, ich brauche keine weitere Auskunft. Auffällig ist die Vermischung und Verbindung von Gesicht und Auge mit Moos und Erde. Es geht um Sehen und Nervenverbindungen, um die Frage, wie ein sehendes, denkendes und fühlendes Wesen in seine Umgebung eingebettet ist, wie sich Umfeld und Auge ineinander spiegeln. [Pause]Zunächst haben wir das Bild einer Umstülpung: ich sehe als erstes die Rückseite des Mooses, dann, wie in einem anatomischen Tafelwerk, die Rückseite der Augen. Nerven und Blutgefäße. Diese feine Bildschaltung kommt ohne „wie“ oder ähnliches aus, sehr elegant und gleitend gemacht. Die Bewegung geht hin und her. Diese Denk- und Sprachbewegung kehrt in der hochproduktiven Trennung „nicht recht // verstanden“ wieder: die Einzelteile funktionieren, aber schlagen zusammen ins Gegenteil um. Es ist ganz schlank und exakt gebaut. Das merkt man schon am Metrum.

Ist es nicht erstaunlich, wie schlagartig Metrik und metrische Anklänge spürbar werden?

Natürlich, oder? Die Regelmäßigkeit spüre ich sofort, sie nimmt mich mit hinein. Allerdings löst Metrik in mir durchaus oft auch ambivalente Gefühle aus. Wie auf einer Eisbahn: Metrik kann zu etwas locken, was man eigentlich nicht haben möchte. Das ist die Ambivalenz für mich: ein Teil gibt sich hin und rutscht eifrig mit, weil’s schön ist, ein anderer Teil in mir wird hellwach, weil sich hinter Metrik auch Mogelei verstecken kann.

Aber hier ist es anders, ich glaube, dieses Gedicht braucht sein Metrum, um den Umstülpungsprozess zeigen zu können. Es ist bemerkenswert, wie gewaltlos die Umstülpung funktioniert. Es wird kein Bruch irgendeiner Art dafür benötigt: dadurch kann die Ununterscheidbarkeit der Dinge deutlich werden. Wenn das Gedicht das Metrum nicht hätte, könnte es mir die Sanftheit und Infamie des Umstülpens nicht beibringen. Hier sieht man insgesamt auch, dass Stil und Inhalt verschlungen zusammenhängen, wie das Moos. Es lässt sich vor- und zurückkippen, es dreht sich und bleibt verflochten. Dann plötzlich: „weit versprengten denkens“. Das würde, alleine stehend, rätselhaft wirken, aber da ich immer noch das Bild des Mooses im Kopf habe, mit all den heraushängenden Fädchen und Würzelchen, immer noch das Bild des Auges, das ja in unserer westlichen Tradition stark als Organ des Denkens ikonisiert ist, habe ich eine wunderbar konkrete Füllung für dieses abstrakte „versprengte denken“. Plötzlich ist es gar nicht mehr abstrakt. Dann das schöne Ende mit dem Wurm, auch so einem Wurzelende, und dem zwangsläufig stummen Vogel in seiner Spannung.

Es handelt sich um die Spannung vor einem Geschehen.

Damit ende das Gedicht ganz anders als das erste, das den Leser wieder in das Gedicht zurückschickte. Es läuft auf sein Ende zu und stellt dieses Ende frei, das tut es auch formal. [Kringel]Auf die Dreiergruppen folgt eine Zweiergruppe. Minimaler Aufwand: die beiden Schlussverse haben nur sieben Silben, aber sie sind angefüllt mit allem, was zuvor geschehen ist. Was aber wird der Vogel nun tun?

[Lacht]. Eigentlich sitzen hier zwei Vögel zum eine der „echte“, der Würmer frisst. Und zum anderen ein Vogel des Denkens. Dieses Gedicht gefällt mir sehr gut – aber wieder könnte ich nicht sagen, von wem das ist.

III.

alle wege hierher waren zügig und blau.
vor rehen wurde auf schildern gewarnt,
das grünen der bäume fiel in die augen,
jedes tier in den ästen hielt sich sichtbar
und still. in richtung der fliehenden kronen
warfen wir unsre köpfe zurück, in scharen
flogen knospen im licht, die stämme waren
mit gleißender farbe markiert, hinter den
kurven die kreuze. NATUR sei wurfziel
der jungen von hier, sag ich dir. vergiss
mein nicht, gibst du mir zurück. erinnerst
du dich an die kronen im anderen jahr, an
unseren laufschritt, das tosen der blätter,
die brandung am kieswerk, die bagger,

den see

Tja – ist das ein Mann? Verraten Sie mir das mal.

Na gut: nein.

Küchenmeister? Bossong?

Wie kam es bei diesem Gedicht gleich zur Frage nach dem Geschlecht des Schreibenden?

Weil ich etwas wahrgenommen habe, das nicht zueinander passt. Die soziale Situation, die ich assoziierte, war eher männlich besetzt: jemand nimmt jemanden mit zum Baggersee, so eine Art Jungsausflug. Andererseits aber habe ich das Gefühl, dass die Sprechweise des Textes nicht zu diesem Eindruck passt, ich könnte mir keinen Dichter dazu vorstellen. Anders als im zweiten Gedicht ist das Metrum viel untergründiger, öfter gebrochen. Es gibt ein Lächeln, es gibt Witz, es ist sehr leise gemacht, erzählerisch und sehr stringent, pragmatisch fortgeführt, dabei doch zart. Das brachte ich nicht mit jener Szene am Baggersee zusammen.

[lange Pause]

Grundsätzlich finde ich dieses Gedicht sehr schön zwischen verschiedene Stühle platziert. Es hat Prosaelemente, wenn wir das einmal der Kürze halber so nennen wollen: eine Erzählsituation, Beschreibung, Anfang, Mitte und Ende, reguläre Satzzeichen. Ein Ich und ein Du sind unterwegs. Auf der anderen Seite arbeitet das Gedicht auch mit ganz verschiedenen Versatzstücken, die klassischerweise der Poesie zugeordnet werden: es gibt Reime, sogar Endreime, auch sehr plakative Binnenreime wie etwa „hier / dir“, die ein gewisses Augenzwinkern in den Text tragen. Da finden sich Sprachzitate wie „vergiss mein nicht“, es herrscht eine feine Ironie aus der Situation des Zurückschauens. Ich glaube, das Problem, dem sich das Gedicht widmet, ist es, ein Fühlen zugleich darzustellen und zu evozieren – und das gelingt sehr gut. Es zeigt zwei Figuren, die sich in einer Situation befinden, der sie selbst nicht mehr ganz trauen, nicht mehr ganz glauben. Sie sprechen in Einfachreimen und Zitaten, evozieren auf diese Weise die Möglichkeit, an den Baggersee zu fahren: und es ist Frühling, alles grünt, alles ist wunderbar, die Knospen fliegen im Licht. Wie kann man das eigentlich so darstellen, dass die Stimmung selbst entsteht? Auch hier wird verneint, aber der Stift, mit dem durchgestrichen wird, ist sehr fein. Die Ironie wird ganz genau und präzise in den Text eingebunden. Dadurch hat es für mich als Leserin einen doppelten Effekt: ich freue mich daran, weil ich mitlächle und die Ironie sehe. Zugleich erlauben die Anspielung auf das Liebesgedicht und das Liebesgedichtklischee, etwas vom Liebesgefühl wirklich zu spüren.

Die Situation, die beschrieben wird, ist ambivalent. Am Ende des Textes entsteht für mich ein ganz anderes Bild des Sees als in der Mitte – als herrschte plötzlich eine andere Jahreszeit. Das wird vor allem lautlich evoziert, ohne dass ein Etikett aufgeklebt werden müsste. Blätter, Brandung und Bagger geben durch die Laute, geben sprachlich, ein ganz anderes Licht als das melodische Frühlingsszenario des Beginns. Die Natur aber wird durch ihre Großschreibung enorm fragwürdig: Was ist die Natur an einem Baggersee?

Gemachte Natur, renaturierte Natur. Eine belebt-unbelebte Natur: manche Tiere sind lebendig und sichtbar, manche nur auf Warnschildern präsent. Entsprechend spricht man in und wirft man mit Liebesfloskeln, die genauso echt-unecht sind. Man merkt das bereits im ersten Vers. Die Geschwindigkeit des geraden Weges, den es in der Natur nicht gibt, den nur der Mensch baut: „zügig und blau“. In diesem Sinne ist „zügig“ hier genau das richtige Adjektiv, indem es nicht das richtige Adjektiv ist. Auf dieses Szenario wird schlüssig aufgebaut: es ist ja nicht umsonst eine große Strophe mit zwei Worten am Ende. Der Naht- und Kreuzungspunkt ist die „NATUR“, hier erst entfaltet sich aus dem Wahrnehmungswesen eine Szene mit zwei Figuren, im Dialog, ganz sparsam gebaut. Dann kippt es wieder in den Wald zurück, aber in eine ganz andere farbliche Mischung. Dadurch, dass der See so frei steht, balanciert sich das Gedicht, erhalten Einleitungs- und Ausleitungsbeschreibung das gleiche Gewicht. Daran sieht man auch wieder, wie deutlich fühlbar sogenannt „Formales“ ist. Es ist ein wesentlicher Teil dieses intelligenten Aufbaus einer Kippbewegung. Nichts würde aufgehen, setzte man den See nicht so: weit, und auffangend, und dazugehörend außerhalb.

IV.

Kalt nach dem Gewitter. Die Kinder
sind zur Scheune gelaufen und klettern
auf den Traktor, der im Stroh steht
seit Ende der Fünfziger Jahre.

Unaufhaltsam geht Land verloren.
Ein Sommer noch für den Feldweg, den Mohn.
Metallgitter sichern das Areal.

Wetterleuchten gegen Abend. Die Kinder haben
es vor sich, das Erzählen aus der Kinderzeit.
Nachts steigt der Marder in die Garagen,
die sich auf den Wiesen vermehren.

Dieses Gedicht setzt auf die unmittelbare Wirkung von Landschaftsbildern. Es ist leicht zu überblicken. Die erste und die dritte Strophe entsprechen sich, beginnen mit dem Wetter und den Kindern, Rahmen für eine kürzere Mittelstrophe. Mir gefällt gut, dass kein Ich und kein Du, überhaupt keine Person vorkommt. Ein Gedicht kann es sich leisten, einfach nur eine Wahrnehmungsinstanz zu zeigen, egal, wer, was oder wie diese Instanz ist: es zeigt sich allein die innere Wahrheit eines Wesens, das sich dadurch auszeichnet, dass es Sprache hat, und das genügt. Alles, was ich hier erfahre, ist, dass dieses Wesen offensichtlich nicht zu den Kindern gehört. Das Wesen scheint älter zu sein, da es sich der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft bewusst ist. Das scheint mir das Thema des Gedichtes, daher auch seine drei Strophen. Die erste Strophe spannt die Reichweite des Gedächtnisses in die Vergangenheit auf. Die zweite bringt einen Kommentar über die Gegenwart, um gleich in die Zukunft zu kippen. Die Zeitstruktur ist sehr fein gearbeitet, es gibt einen Verlauf, es vergeht tatsächlich Zeit. Alles erscheint wie an einem Nagel aufgehängt, an der Situation des Gewitters, und entfaltet sich von dort aus. Zwar ist im ganzen Text kein Ich gegenwärtig, aber doch zieht das wahrnehmende Subjekt sich im Verlauf immer weiter zurück, es beobachtet, was gar nicht sichtbar ist. Am Ende handeln nur noch die Marder und die Garagen. Das ist ein schönes Bild, aber auch ein enorm trauriger Zusammenhang, da die Vermehrung der Garagen als nicht mehr aufhaltbarer Prozess erkennbar wird. Hier finden wir keine Menschen mehr am Werk, sondern strukturelle Prozesse, das wird hier sehr präzise beschrieben. Die Worte „Struktur“ oder „Prozess“ fallen dabei selbstverständlich nicht, dass es sich darum handelt, wird exakt durch die Selbstvermehrung der Garagen ausgedrückt. Ein schönes Beispiel für den entscheidenden Unterschied, ob ich schreibe „Garagen werden auf den Wiesen gebaut“ oder „Garagen vermehren sich auf den Wiesen“. Wenn da jetzt Gottlob Frege mit seiner Sprachphilosophie käme, würde er sagen, dass Sinn und Bedeutung in beiden Fällen identisch seien, nämlich mehr Garage auf den Wiesen. Aber stilistisch und formal ist es ein himmelweiter Unterschied – und es wird auch etwas ganz Unterschiedliches ausgesagt.

Das steckt auch in den Passivformen, die Gegebenheit des Ortes: niemand nimmt das Land weg, sondern es geht verloren, ganz unpersönlich. Die Spiegelachse des Gedichtes ist der melancholische Satz „Ein Sommer noch für den Feldweg, den Mohn.“ Dieser Satz könnte romantisch sein, im verwendeten Arsenal, er ist es aber nicht in seinem Ton. Dieser Satz wird in der zweiten Strophe eingekreist von den unpersönlichen Prozessen, die sich selbst vorantreiben.

Auch lautlich und in Bezug auf Stilmittel ist das Gedicht ganz unterschwellig und unpersönlich gearbeitet. Alles zieht sich zurück, nur die Strukturen sind in ihren Spiegelungen und Symmetrien prominent. Auch hier könnte ich nicht sagen, von wem das ist. Aber man stellt sich ja immer etwas vor. Mein Eindruck ist der einer älteren Person, das legt die Perspektive nahe. Viel Landschaft und ein starker Bezug zu dieser Landschaft. Deshalb würde ich an jemanden wie Wulf Kirsten denken, wobei ich weiß, dass das nicht sein kann, denn es kling überhaupt nicht nach Wulf Kirsten. Der Text ist sehr intelligent, aber auf versteckte Weise. Im Grunde ist er beinhart. Das zeigt sich auch in seiner durchstrukturierten Form: dieses Gedicht ist gnadenlos gebaut. Und gnadenlos gehen Zeit und Verlust voran.

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