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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Pas de deux

Hamburg

Ein Buch ist ein Schal. Ein Buch ist ein Schal, der sich winters wärmend anschmiegt. Um den Hals legt. Ein bunter Schal, ein lebendiger Schal, ein Schlangenschal, eine Fellschlange, eine fließende, flusige Bewegung beim Atmen, ein flauschiges Tönen, ein Strom. Der Strom.

Der Mensch ist kein Schal. Er hat Knochen in Röhrenform und zwei Plattköpfe, nein, gottseidank nur einen runden Knochenplattenkopf. An den Röhrenknochen hängt das Fleisch, dazwischen wölbt sich Herzmuskel-Fleisch, hängt sich eine Luftsack in die Rippenharfe und pumpt und bläst ein Körper-Leben lang, um jenes Stückchen grauer Schattengeist im Plattenkugelknochen am Leben zu halten, das strömt hinauf und hinunter, mit jedem Herzschlag anders, mit jedem Atemzug: mal helles, mal dunkles Blut, mal luftig-träumerisch, mal schwer-irdisch.

Einen elastischen Raum von der Größe einer Nuß, unendlich dehnbar,
wo das Leben aufgehoben ist, das sich als das eigene ausgibt.
Sämtliche Aggregatzustände der Dinge, Bewegungsformen des
                                                                                                                    Geistes,
der unverwandte Blick der Liebe, kurz bevor sie einen trifft.

Was ist das nun, dieser Strom in Blut und Luft, was treibt dieses Zirkulat, das sich so gar nicht darum schert, ob der Mensch wach ist oder nicht? Das, so ist zu vermuten, weiß nur der Postbote, Angelo.

In Angela Krauß Buch hat aber der Strom sie eines Nachts umfasst, ließ ihr Bewußtsein ein bisschen mitreisen durch den Grand Canyon des Lebensleibes, wo sich der Griff des Körpers und der mäandernde Geist begegnen. Eine Erfahrung, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog, was, bei einer Wohnung im vierten Stock, draußen schlafen Raben in hohen Bäumen, draußen ein Tierpark mit sehr großen Tieren - Elefanten!, bedenklich ist. Eine große Versuchung, dieses Paket des Boten zu öffnen, das so unwiderstehlich leicht ist, doch sie legt es ungeöffnet oben auf den Schrank. Geht lieber im Schnee spazieren - ist das eine Rabenreise später? - wenn das nicht ihre Brüder sind, die sie umflattern? - oder die dort draußen vor dem Fenster? - aber was später ist, interessiert nicht den Strom.

Der Strom kennt keine Zeit, er hat keine Zeit für Zeit, es gibt kein zweites Mal hinein, weil er Eins ist und man entweder drinnen ist oder draußen. Zwischen drinnen und draußen ist keine Haut: nur das Gedicht, mit anderen, krauseren Worten, der Kuß.

Nach dem Kuß schrieb ich siebenunddreißig Stifte
zu Stümpfen, einhundert Briefe schrieb ich dem Römer,
dem ersten Mann, der mich küßte.
In dem Jahr, als die alte Karbolfabrik explodierte.

Ein bisschen möchte die anfängliche Prosa des Buchs manieriert klingen, das befürchtet meine Sorge um Lesers kritische Reflexion, denn vielleicht hat nicht jeder die Person Angela Krauß vor Augen, ihre Art zu sprechen, zu lächeln und zu horchen, so dass die Geduld fehlen könnte, bis der feine Humor des Textes jeder kritischen Anwandlung das Handwerk legt. Zur Seite legt, um präzise zu sein, man braucht es hier nicht.

„Ich kenne das Viertel, erwidere ich unbeirrt, von früher, verstehen Sie, einst dachte ich, um etwas zu verstehen, muß es erst zu Ende sein. Daran zweifle ich inzwischen; nichts ist wirklich zu Ende und verstanden wird auch nichts. Das Verstehen ist so eine Sache, eine Art Trost- und Wahnvorstellung. Alles fließt, doch das Verstehen bremst. Sobald etwas verstanden werden will, kommt es zu Stockungen. Man sollte es streichen, zuerst als Wort, dann als Wahn! Geben Sie sich keine Mühe, Madame, flüstert mein Patron mitfühlend, ich verstehe alles.“

Es ist eine Umschreibung, eine kleine Miniatur um viele Kraußsche Motive; halb Prosa, halb Lyrik, dieses dünne Büchlein hat den Charme, dass dort, wo man bei anderen guten Büchern mit einem gewissen Leid das Ende sich nähern fühlt, zum Vorschein kommt, hier ist kein Ende. So wie früher einmal Robert Walsers Spaziergänge kein Ende nahmen, über mehr an Lob verfüge ich nicht, sie lösen sich im Vorwärtsgehen nach rückwärts in ihre Anfänge auf: die perfekte Coda.

Angela Krauß
Der Strom
Suhrkamp
2019 · 93 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42867-2

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