G. nummeriert seine Absätze, denn dann fühlt er sich wie Wittgenstein
Anne Carson, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Dichterinnen englischer Sprache, hat ihren zweiten bei Matthes und Seitz erschienenen Band herausgebracht. Er heißt Albertine - 59 Liebesübungen + Appendices und ist nach Anthropologie des Wassers von 2014 ihr zweiter Band bei dem Verlag, jeweils beide Bände übersetzt von Marie Luise Knott. Albertine ist sehr schmal, ein Heftchen von 44 Seiten in Fadenheftung und in für Matthes und Seitz untypischem Cyancover. Äußerlich wirkt der Band eher wie eine beiläufige Ausstellungskatalogs- oder Artist-in-Residence-Publikation. Jene Beiläufigkeit ist womöglich eine der Kernkompetenzen von Carsons Text, der im Original The Albertine Workout heißt. Also tatsächlich eine Art Leibesübung nach getaner Arbeit, oder leider beendetem Projekt. Das Projekt heißt Proust, und obwohl seine Recherche den Eindruck erweckt, nie aufzuhören beim Lesen, und im Leser gleichlautenden Wunsch Bitte-Niemals-Aufzuhören pflanzt – zumindest bei den Verehrern, ist doch auch die Recherche mit einem Ende versehen. Dieser Eintritt in die "Wüste nach Proust", so Carson, ist unausweichlich mit einer "Vergrauung des Lebens" gleichzusetzen. Carsons eigener Romanheld aus Rot. Ein Roman in Versen Geryon, hinfort G. genannt, befindet sich rettungslos in ebenjener Wüste, und um zumindest Proustiana-Material am Leben zu erhalten, sich selbst damit zu beatmen, schuf G. jenen Essay über Albertine, in 59 Absätzen, versehen mit Appendizes, die in Bemerkungen über Barthes, Beckett, Kimonos, Nonnen, Bluffs, Geschwindigkeit und derart assoziierte Theoreme mehr enden.
In den G. zugeschriebenen Absätzen entwickelt sich eine individuelle Lesart und Rezeption der Recherche (auf Basis der von Proust intendierten Vermischung von Fiktion und Autobiographie) kraft der speziellen Faszination, die von der Albertine genannten Figur ausgeht, von Proust selbst oder Marcel (im Roman). Wohl die literaturfiktionale Inkarnation Agostinellis, seinem angebeteten Chauffeur, der in einem von Proust geschenkten und mit Mallarmé-Versen bemalten Aeroplan tödlich verunglückt ist. Albertine ist stark präsent in den plotlosen Gedanken/ Erinnerungswelten des Erzählers, voller Begehren, das unausgesprochen bleibt bis in ihren Tod (ein Reitunfall), und Bewunderung für die hauptsächlich schlafende Figur (so ihr Stand in der Recherche).
Und wie durch Prousts Werk u.a. die Idee vermittelt wird, eine Welt entstünde durch Sprechen/ Schreiben, durch Erinnern, Rekonstruieren und Auswerten der eigenen sinnlichen Erfahrungen, rückt sich Carsons Exegese (und Traktat G.'s) und Kosmogonie namens Albertine von allein in die Nähe Wittgensteinscher traktatlicher Weltgenerierungsvorstellungen. Doch G.'s Absätze sind fast eine Persiflage, wenn sie nicht selbst so sinnlich ihrer eigenen Faszination der Proustschen Welt aus Melancholie, abgedunkelten Fenstern und erinnerten Geschwindigkeitserfahrungen erliegen und nachgehen würden.
"15.
Trotz intensiver und hartnäckiger Befragung findet Marcel nicht heraus, was genau Frauen eigentlich miteinander tun ("diese ganz spezifische Erregung weiblicher Lust", wie er das nennt).16.
Albertine sagt, sie wisse es nicht.17.
Sobald Marcel Albertine in sein Haus gesperrt hat, ändern sich seine Gefühle. Anfangs hatte gerade ihre Freiheit ihn angezogen, die Weise, wie der Wind in ihre Kleider fuhr. Die Anziehung ist einem ennui (Überdruß) gewichen. Albertine wird, wie er sagt, eine "beschwerliche Sklavin".18.
Dies ist kein Wunder angesichts von Marcels Theorie des Begehrens, die die Inbesitznahme einer anderen Person mit der Auslöschung der Andersheit ihres Denkens gleichsetzt und zugleich die Andersheit als das bestimmt, was eine Person begehrenswert macht.19.
Und in der Tat, wie kann er ihr Denken in Besitz nehmen, wenn sie lesbisch ist?20.
Seine Faszination dauert an.21.
Als Marcel Albertine zum ersten Mal sieht, ist sie ein Mädchen mit Polomütze, die ihr Fahrrad über den Strand schiebt. Auf dieses Bild kommt er wieder und wieder zurück.[...]
24.
Der Zustand, der Marcel über alle Maßen gefällt, ist Albertine im Schlaf.25.
Indem sie in Schlaf fällt, wird sie zur Pflanze, sagt er.26.
Pflanzen schlafen nicht wirklich. Auch lügen und bluffen sie nicht. Dafür zeigen sie ihre Genitalien."
In den sich anschließenden Appendizes vertieft und verlegt Carson den Fokus von der Fiktion der Recherche auf besagt benachbarte Themen und kommt dabei immer wieder auf Marcel Proust, den Menschen zurück. Auf Agostinelli und die Primärerfahrungen, auf denen die Kosmogonie der Recherche beruht. Nicht minder gewitzt und scharfsinnig.
"Appendix 20 über Geschwindigkeit
Im Jahr 1907 betrug die Höchstgeschwindigkeit in Frankreich 15 km/h. Als Alfred Agostinelli Marcel Proust durch die Normandie chauffierte, muss er dieses Tempo zeitweise überschritten haben, denn glaubt man dem Artikel im Figaro von 1907, fühlte Marcel sich beim Fahren mit Alfred wie aus einer Kanone geschossen. Alfred trug einen Gummimantel samt Haube, womit er, wie Proust sagt, aussah wie eine "Geschwindigkeitsnonne"."
Anne Carson ist nicht nur hochdekoriert als Autorin, sie ist als Altphilologin, Übersetzerin antiker Klassiker von Sappho bis Sophokles, Anthropologin und Literaturwissenschaftlerin enorm belesen und schwingt mühelos und eben scheinbar beiläufig zwischen allen möglichen Themen und Ebenen hin und her. Ein zugleich akademisches Sprechen und Philosophieren neben hochverdichtetem Assoziieren und sprachlichem Voltigieren zeichnet sie aus. Ihr neuer Band ist federleicht, witzig, sinnlich und eine hochkultivierte Lektüre.
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