Fragen, die keine Antworten, aber eine Farbe finden
Die außerordentliche Freiheit, sich immer wieder selbst zu widersprechen, Grenzen zu übertreten und das scheinbar weit auseinander Liegende zusammen zu bringen, zeichnen Anne Carsons Werke von Anfang an aus. Von der Anthropologie des Wassers, in der sie sich vom Haibun, einer japanischen Form, der sich die Dichter und Mönche vergangener Zeiten bedienten, inspirieren ließ, über Decreation, in der sie scheinbar unbekümmert sämtliche Grenzen zwischen Essay, Oper und Lyrik überschritt und durchmaß, bis zu den zwei Romanen in Versen über Geryon, die jetzt in der kongenialen Übersetzung Anja Utlers auf Deutsch vorliegen.
Ausgangspunkt ist der Mythos von Geryon, einem roten geflügelten Monster, das mit einer Herde roter Rinder auf einer roten Insel lebt, und schließlich von Herakles getötet wird, wie die zehnte der zwölf von ihm verlangten Heldentaten es vorsieht. Von Geryon ist in der ursprünglichen Sage nur als Opfer die Rede. Bis um 600 v. Christus Stesichoros, der an der Nordküste Siziliens lebte, dem Herakles Mythos eine neue Wendung gab.
In „Rot“ ersteht Geryon, seit 3000 Jahren fast vergessen, mit der erstaunlichen Anne Carson wieder auf, und zeigt sich in seiner Gegenwärtigkeit, als „sehr nette Person“.1 Dabei wird die ursprüngliche Sage umgekehrt, Geryon ist nicht länger Opfer, sondern Hauptakteur. In „Autobiografie von Rot“ lernen wir ihn als Kind kennen. Ein Kind, das von seinem Bruder sexuell genötigt wird und schließlich eine unglücklich endende kurze Liebesgeschichte mit Herkules erlebt.
Das Skelett bilden für die Versromane bilden die Fragmente2 Stesichoros, die Carson auf ihre Weise mit Fleisch füllt. Mit fühlendem Fleisch. So geht sie über viele Jahre der „Sache Geryon“ nach, oder entfaltet vielmehr ihre Kunst in den Lücken, die Stesichoros hinterlassen hat.
„Autobiografie von Rot. Eine Romanze“, zeigt uns Geryon mit seinen Bruder und seiner Mutter. Ein Kind, das Gefühle als ganz materielle Tatsachen entdeckt. In Form von Steinen, die sein Bruder aufhebt, woraufhin Geryon konstatiert: „Steine machen meinen Bruder glücklich.“
„Doch sobald Gerechtigkeit waltet
Bröckelt die Welt.“
Im Gegensatz zu Glück, ist Gerechtigkeit ein moralisches Konstrukt, kein Gefühl. Abstrakt. Möglicherweise absurd.
Ebenso wie dieser subtile Übergang von „für sich“ zum Wendepunkt, der Geryon zum Opfer seines Bruders macht. Das sind atemberaubende Verse, die man eigentlich nur zitieren kann. Weil alles was ich selbst darüber schreiben könnte, platt erscheinen muss verglichen mit dem filigranen Netz, das Carson von der kindlichen unschuldigen Fülle zur Aussichtslosigkeit des sexuell Missbrauchten webt.
"[…]Am Eingang in den verrotteten Rubin der Nacht duellieren sich nun Freiheit
und verquere Logik.
[…] Innen habe ich für mich, dachte er […]
Das war auch der Tag,
an dem er seine Autobiografie begann. In diesem Werk hielt Geryon alle inneren Dinge fest
insbesondere seinen Heldenmut
und frühen Tod zur allgemeinen Verzweiflung. Ungerührt
ließ er alles weg was draußen lag.“
Alles, was ich darüber zu schreiben versuche, liegt draußen und trifft es kaum. Nicht, weil irgendetwas von dem, was Anne Carson schreibt, unklar ist, kompliziert oder nebulös, vielmehr weil es so unvergleichlich klar ist in seiner schlichten Wesentlichkeit.
Einer Wesentlichkeit, die sich durch Leerstellen auftut.
Nicht nur die Personen, auch die Bilder und vor allem Gefühle bekommen Raum, werden von Carson nur leicht angestoßen, um sich dann beim Leser zu entfalten.
Dabei folgen die Ereignisse recht schnell aufeinander. Nach der Skulptur entdeckt Geryon die Schrift, und mit der Schrift die Möglichkeit, die Dinge umzuschreiben, kurz darauf lernt er Herkules kennen. Und beginnt zu fotografieren, oder sich hinter der Kamera zu verstecken.
Mit der ersten Liebe kommt die endgültige Ablösung von der Mutter:
„[…] die Liebe macht mich weder
sanft noch freundlich, dachte Geryon während er und seine Mutter sich
beäugten
von den entgegengesetzten Ufern des Lichts […]“
Alles was Carson schreibt ist überwältigend in seiner zärtlichen Lakonie. In seinem Prinzip, dass die Sätze nichts mit Endgültigkeit aussagen, sondern vielmehr den Leser für die Aussagen öffnen. Dafür arbeitet sie mit Unterbrechungen, Abbrüchen, Szenen und Schnitten. So viele Lücken. Und in jeder liegt ein Teil unserer eigenen, lange vergessen geglaubten Gefühle. Und es sind gerade die Dinge, die ausgespart, nicht ausgesagt werden, die die Verse leuchten lassen:
„Carsons Gedicht sagt nichts darüber, ob es dem im Flug explodierenden Geryon vor Schwung die Schuhe auszieht. Falls nicht, sehen sie bestimmt so aus, als würden sie nicht mehr zu ihm gehören. Komisch und anrührend (…)3
Tobias Lehmkuhl hat zur 2001 erschienen Version von „Rot“ geschrieben: „Und die schwarzen Lettern auf weißem Papier sind Lavaströme, die lediglich andeuten, was unter der Oberfläche vor sich geht.“ Dem wird auch der Drucksatz gerecht, die Zeilen sehen tatsächlich aus, wie ein träger Lavastrom, der sich beharrlich über die Seiten ergießt.
Red doc> beginnt mit einem Gespräch zwischen Geryon und seiner Mutter (sie scheint krank zu sein, eine Operation steht bevor). Geryon ist nach Reisen nach Argentinien und Peru, wieder bei seiner Herde, und kümmert sich darüber hinaus um Herkules „Sad but Great“, der nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, nicht nur einen anderen Namen trägt.
Der Drucksatz hat sich geändert. Statt Lavaströmen steht jetzt eine kompakte Zeitungskolumne in der Mitte einer weißen Seite. Vielleicht auch als Entsprechung für die Straße auf der ein wenig wie in einem Roadmovie alles konsequent auf das Ende zuläuft. Aber vorher taucht Ida aus dem Dickicht der Gedanken, Gefühle und Erinnerungen auf:
„[…] Ihr altes
Kariertes Sakko wie leicht
er Katastrophen ins Herz
schließt […]“
Sowohl Ida als auch Sad haben psychische Probleme, Geryon hingegen ist ständig mit der Lektüre beschäftigt. Freiwillig mit der von Proust, später zunächst widerwillig mit der von Daniil Kharms.
Es wimmelt nur so von mythologischen Figuren. Und Anspielungen auf den mythischen Stoff, der bei Carson jedoch ein derart unabhängiges Eigenleben entwickelt, dass der Leser sie auch ohne Kenntnis der zugrundeliegenden Sagen genießen kann.
Und wenn ich jetzt noch schreibe, dass Vulkane und Gletscher eine Rolle spielen, klingt das überladen, obwohl es beim Lesen niemals so wirkt. Und ich habe wirklich keine Ahnung, wie Anne Carson das macht. Sie erzählt knapp, atemlos verdichtet, als Analogie zur Rationalisierung der Kriegsführung, in der nicht nur Namen und Essen rationiert werden, sondern auch das Töten. Bis die Psyche sich wegduckt. Jede auf ihre Art.
Immerzu dreht sich alles um nicht weniger als die ganz großen Themen: Zeit, Liebe, Einsamkeit, Krieg. Grundsatzfragen des Lebens, die Carson in alltägliche Szenen packt, die unversehens aufbrechen in einen Raum, in dem Traum auf Trauma trifft, Proust auf Kharms, Mythen sich mit der Gegenwart vereinen, und Leerstellen auf einen Leser treffen, der hoffentlich bereit ist, dieses sagenhafte von Carson entworfene Land zu betreten.
In einem großen Showdown treffen in einer Privatklinik, in der Geryon und Sad aufgrund einer Autopanne gelandet sind, und in der schließlich auch Ida zu ihnen stößt, alle wieder aufeinander. Und ehrlich gesagt ist die Handlung zu komplex, und vielleicht auch zu verrückt, um sie hier nacherzählen zu können, stattdessen lieber noch einmal O-Ton Carson:
„[…] Manche
Gespräche drehen sich um
Etwas anderes als um ihren
Inhalt. Das Wort
Konversation bedeutet
„gemeinschaftlich drehen“.
Dieses Zitat beschreibt nicht zuletzt das Prinzip von „Rot“. Eines, das den Leser mit einbezieht. In ein Netz aus Chaos, aus Poesie und Prosa. Das ihn mitnimmt in ein Haus durch das ein Mann, ziemlich schnell hindurchrennt.4
Wir nehmen Abschied von G., als dieser Abschied von seiner Mutter nimmt, in einer umwerfend berührenden Szene, in der sie ihn auf dem Sterbebett bittet, ein paar Damenbarthaare mit der Pinzette zu entfernen:
„[…] er schiebt den
Sauerstoffschlauch zur
Seite und zupft ein paar.
Übervorsichtig. Und noch
Ein paar. Es sind hunderte
Tausende. Er will nicht
damit rechnen müssen
dass sie zusammenzuckt
sie zuckt nicht zusammen.
Das passt schon Mama
Man sieht die ja kaum. […]
Ich schaue bestimmt furchtbar
aus. Nein, du siehst aus wie
meine Mama. Jetzt zuckt
sie zusammen […]“
Diese kleine Episode, die nur scheinbar klein und abwegig ist, birgt in sich eine ungeheure Intimität,5 die mir erlaubt plötzlich zu erkennen: das Gedicht schafft Raum für die Geheimnisse, aus denen das Leben wirklich besteht.
Carsons Gedichte sind nicht „schwierig“, wie mancherorts in Besprechungen behauptet wurde. Sie brauchen kein Hintergrundwissen, um etwas zu „verstehen“, nur die Bereitschaft, sich auf das Erlebnis einer großartigen Lektüre einzulassen.
Anja Utler in der Antrittsrede zur Thomas Kling Poetikdozentur, teilweise abgedruckt in der Neuen Rundschau, 2019/2
„Was unterscheidet die Poesie von der Prosa Sie kennen die alten Analogien die Prosa ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der ziemlich schnell hindurchrennt“
Stesicheron hätte ein besseres Adjektiv gefunden.
- 1. Anne Carson über Geryon
- 2.
Fragmente, die sie vorab in ihrer Übersetzung vorstellt.
Das elfte von Stesichoros Bruchstücken lautet „Recht“:„Gibt es viele kleine Jungen die glauben sie sind ein
Monster? Nur dass ich was mich angeht Recht habe sagte Geryon
Zu seinem Hund sie saßen auf den Klippen Der Hund sah zu ihm auf
Voll Freude“Das sind Zeilen, die wuchern und aus allen Nähten platzen. Carson gelingt in Rot das Wunder, sie ebenso prall wuchernd über eine romanhafte Länge fortzuführen.
- 3. Anja Utler in der Antrittsrede zur Thomas Kling Poetikdozentur, teilweise abgedruckt in der Neuen Rundschau, 2019/2
- 4. Was unterscheidet die Poesie von der Prosa Sie kennen die alten Analogien die Prosa ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der ziemlich schnell hindurchrennt“
- 5. Stesicheron hätte ein besseres Adjektiv gefunden
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