Narr und Chamäleon
Man sieht es ihm vielleicht nicht sofort an, doch es geht in diesem Buch um die Ersten und die Letzten Dinge. Nicht bloß auf eine traurige und nachdenkliche, sondern auch auf eine sehr vergnügliche und sinnliche Art & Weise. Schon das erste Gedicht verdeutlicht das, indem es bedeutungsvoll anhebt: »wie ist es denn so / wenn ich nicht mehr bin / fragte mein sohn mich / ich sagte es ihm / es ist wie es war / bevor du geboren«. Das mehrmals prominent auftretende unpersönliche »es« wird menschlich erwärmt durch die Vater-Sohn-Beziehung, die einerseits Trost spendet in der Versicherung, daß nach dem Tod nicht mehr gelitten werden müsse, aber zugleich mitteilt, daß dann nichts mehr zu sehen sei. Arne Rautenberg sagt das so anrührend schlicht, daß man vergißt, dass diese Wahrheit nicht sonderlich neu ist. Das Gedicht kann den Widerspruch nicht auflösen, sät aber den Verdacht, daß es zuletzt doch besser sei zu sehen –: nämlich all das, was dann folgt, den emotionalen Höhen und Tiefen zum Trotz.
Am Schluß des Bands wird das Motiv konsequent wieder aufgenommen, diesmal in Gestalt einer zunehmenden Entfremdung von Sohn und Mutter: »der enorme magmadruck / reißt unseren kontinent in zwei teile«, heißt es dort vorwurfsvoll und allemal bar jeden Trostes. »der rückgang von permafrost«, den das titelgebende lange Gedicht zuvor zelebriert hat, erfährt hier eine tragische Extremität. Die Mutter mit ihren psychischen Problemen ist genauso hilflos wie der Sohn, der ihr nicht helfen kann. »mit dir zu telefonieren / ist wie die sturmflut / in der chronik von 1634 / die einen strand gebar«, rettet sich der schreibende Sohn in den bildreichen Vergleich, wohl wissend, daß es Zustände gibt, aus denen selbst die Worte nicht mehr erlösen können. Deshalb verzichten diese »mutteranhänge« weitgehend auf dichterische Bezauberung und sind nüchtern, unverspielt, direkt benennend, lyrische Magengrubenschläge.
Dazwischen liegen rund siebzig Seiten, die auf das unterschiedlichste Terrain führen. Wenn Arne Rautenberg schreibt, geschehen kleine Wunder in den Gedichten. Strenge drei- und vierzeilige Strophen stehen neben übers Blatt mäandernden oder wie ein Pfeil, ein Pinselstrich, eine Woge dahinflirrenden Texten. Der formalen – und optischen – Vielfalt entsprechen die verschiedenen Tonlagen, die Rautenberg anschlägt. Sehr einfache Gebilde gesellen sich zu Recht komplexen, Wortspiele albern neben Elegien herum, Innovatives sucht die Nähe von Bekanntem. Diese aufgeladene Vielfalt auf kleinstem Raum macht Rautenbergs jüngstes Buch so sympathisch wie abwechslungsreich. Wie ein Chamäleon paßt es sich der Umgebung an, findet für jedes Sujet den eigenen Ton; wie ein Narr äußert es unter der Maske luftig-lustiger oder leicht spöttischer Worte die tiefsten und tiefsternsten Einsichten und Beobachtungen.
fliegen in kirchen
die kreuzspinne spinnt
auf dem altar im
kruzifix ihr
netz
Eine simple Beschreibung kann plötzlich metaphorische Dimensionen annehmen und im Verein mit der geschickten Wortwahl zur kritischen Invektive werden, die nicht & nie beleidigend oder verletzend ist. Abzählreim, Märchen, Lied und anderen Formen wird auf diese Weise frisches Leben eingehaucht. Bewundernswert bleibt, wie Rautenberg dabei die Balance zwischen Humor und Ernst wahrt, so daß weder Spaßkultur noch Kulturpessimismus bedient werden. Welchem (oft entlegenen) Thema, welchem (oft unerwarteten) Gegenstand sich Rautenberg auch zuwendet – Nullpunktenergie, Emily Dickinson, Schwarmintelligenz oder das Martinshorn –, es bleibt derselbe hochagile Zugang, der je nach Erfordernis blitzschnell zwischen den Tonlagen wechseln kann. Man hat immer wieder den Eindruck, Arne Rautenberg, dieser fahrende Sänger, versucht, Tod und Trauer durch die Sprache und eine gehörige Portion Optimismus eine lange Nase zu drehen (oder wenigstens spielerisch zu erleichtern), und sei es mit Reim und bitterer Ironie:
sprachfetzen zum beschwichtigen
schwebt noch in lebengefahr
deutschlandfunk sendet nachrichten
spricht unser wunschdenken wahrwas kann im todeskampf schweben
wenn ein zu offener mund
verkündet sein röcheln sein beben
unverhohln vorm abgrundwas stürzt das wollen wir heben
schwebt noch in lebensgefahr
am totenbett liebt man das leben
wir sagen noch einmal bleib da
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben