Bleichmittel in der Syntax
„Meine Mutter ließ Bleichmittel durch ihre Syntax laufen
Auf der anderen Seite des Satzzeichens wurden ihre Buchstaben weißer
als ein Winter in Norrland“
So lauten ein paar der ersten Verse von Athena Farrokhzads Langgedicht „Bleiweiß“, im Original „Vitsvit“, das, aus dem Schwedischen übertragen von Clara Sondermann, nun bei Kookbooks auf Deutsch vorliegt.
Wo soll man beginnen, wie einsteigen in diesen großen und großartigen, vielschichtigen, bilderreichen und trotz seiner sprachlichen Einfachheit doch höchst komplexen Text? Vielleicht so: „Bleiweiß“ ist Athena Farrohzads Debüt. 2013 erschienen in Schweden, seither in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt. Für ein Debüt, noch dazu ein lyrisches, ist das ein herausragender Erfolg, der seine Autorin auf einen Schlag auf die Bühne der Weltliteratur gehoben hat. Farrokhzad, nur dem Namen nach mit Forough Farrokhsad, der bedeutendsten iranischen Dichterin des 20. Jahrhunderts, verwandt, wurde 1983 in Teheran geboren. Ihre Eltern, „bei ihrer Ankunft marxistisch geprägt“ flüchteten vor dem Iran-Irak-Krieg und vor der Verfolgung von Linken nach Schweden, wo Athena Farrokhzad aufwuchs.
Ihre Familie und deren Geschichte, die Fragen um Migration und Identität, um Krieg und Flucht, um Rassismus und Assimilation, um Vergessen und Erinnern sind nur eine Handvoll der vielfältigen Themen, die sie in „Bleiweiß“ auffächert. Dabei lässt sie ihre (fiktive?) Mutter, Großmutter, den Vater und Bruder, den Onkel sprechen. „Meine Mutter sagte“, „Mein Vater sagte“, „Mein Bruder sagte“ - so beginnen die Strophen. Das Lyrische Ich blitzt nur kurz auf, spricht nur in den ersten Versen selbst, dann wird es von den anderen gesprochen, bewegt sich aber stets sichtbar zwischen den Versen, die Hauptrolle in diesem Gedicht spielt das Ungesagte, das Unsagbare.
„Meine Mutter sagte: Unterschätze niemals welche Mühen die Menschen auf sich nehmen
um Wahrheiten zu formulieren vor denen sie bestehen können“
Der Doppelpunkt bleibt nahezu das einzige Satzzeichen. Das Design des Buches, gestaltet von Andreas Töpfer, korrespondiert mit dem Text: Weiße Verse auf schwarzen Balken – wie Zensurbalken. Eine Anspielung auf jenes Unsagbare? Auf die Zensur in Iran? Auf die Stimmen von Migranten, die die weißen Mehrheitsgesellschaften in Europa bis heute nicht wirklich hören wollen, denen sie mit Arroganz und Ignoranz begegnen? Der ganze Text ein Aufbegehren gegen jenes „Bleichmittel“ gegen das Geschwätz von Integration, das doch eigentlich Assimilation meint, wie in jenen Versen, in denen der Bruder sich „rasierte noch bevor der Bart anfing zu wachsen“, denn er „sah ein Terroristengesicht im Spiegel / und wünschte sich ein Glätteisen zu Weihnachten“. Der ganze Text zugleich auch eine intime Auseinandersetzung mit den Erinnerungen und Sehnsüchten der Eltern im Exil, mit den Alpträumen, die sie seit der Flucht nicht loslassen, mit den Wünschen und Träumen, die sie auf die Tochter übertragen, die ihnen ein Neuanfang scheint, liegen ihre Geburt und die Flucht doch zeitlich nah beieinander:
„Meine Mutter sagte: Im Schlaf deines Vaters werdet ihr zusammen hingerichtet
Im Traum deines Vaters bildet ihr eine Genealogie der Revolutionäre“
(…)
„Mein Bruder sagte: Ich möchte eines Tages in einem Land sterben
in dem die Menschen meinen Namen aussprechen können“
(…)
„Mein Bruder sagte: Schwarze Milch der Frühe, wir trinken dich nachts“
Das Celan-Zitat zieht sich durch das gesamte Gedicht, taucht in Variationen immer wieder auf, und ein Vers des Bruders bringt die Seele des Textes auf den Punkt: „Das Vergangene ist ein Übergriff der niemals aufhört“, weil er die Gegenwart bedingt und alles, was sie mit sich bringt, ebenso wie der Krieg, der niemals aufhört, auch wenn man selbst aufhört, sein Opfer zu sein, wie der Onkel an einer späteren Stelle sagt.
„Bleiweiß“ ist ein Gedicht, das seine Kraft aber trotz aller Verwerfungen nicht aus einer Anklage zieht, auch nicht an einer wie auch immer gearteten Message – obwohl es hochpolitisch ist, verweigert es sich klarer Aussagen und ist damit besser als die große Masse der politischen Lyrik. Nein, es zieht seine Kraft aus seiner Echtheit. Die Verletzungen sind echt, die Zweifel, die Verzweiflungen sind echt, die Liebe ist in diesen Versen ebenso echt wie die Trauer. Da ist nichts aufgesetzt, nichts kalkuliert, trotz aller formaler Perfektion.
„Mein Bruder sagte: Wir sind nichts als die Summe der Verletzungen die Sprache uns zufügt“
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben