Fabulierte Wiedergutmachung
Als edler Räuber ging der „Schinderhannes” in die Literaturgeschichte der Geniezeit ein. Das Leben des Salzburgischen „Schinderjackl” im Jahrhundert davor verlief jämmerlich. Jakob Koller, Waise eines Freiknechts, d.h. Henkersgehilfen, und Sohn der bleiberechtslosen Bettlerin „Schinderbärbel”, einer Abdeckerstochter, kam mit der Erbsünde seines Flüchtlingsstatus zur Welt. Man jagte sein Phantom, um damit hunderte seiner angeblichen Anhänger unschädlich zu machen – ein beispielloser Justizskandal in Vor-Maria-Theresisanischer Zeit. Haarsträubend lesen sich die Protokolle der „Zauberer Jackl”-Prozesse. Felix Mitterer dramatisierte den Stoff für das Theaterstück „Die Kinder des Teufels” (2014). 2017 ist Birgit Schwaners experimentelle Erzählung „Jackls Mondflug” erschienen.
Darin zeigt die Autorin von neuem und wieder schmal, aber hochkarätig vor sprachschöpferischer Lust und in belesenen Anspielungen, wie Fantasie es vermag, Wirklichkeit, und sei sie noch so ungerecht, aufzuheben und in kühnste Träume zu verwandeln: In der Dystopie „Polyphems Garten” kritisierte Schwaner durch einen Drohnenstaat bedrohte Kommunikation, in „Lunarische Logbücher” machte sie in fiktiven Briefen phantastischer Raumfahrerinnen Mut für Neu-Aufbrüche. 2007 hatte sie sich in „Held. Lady. Mops” dem männlichen Forscher Slatin Pascha gewidmet und seine Geschichte umgedichtet. In „Jackls Mondflug” begibt sich die Autorin in die historische Umgebung des Zauberer-Jackl:
Die Winter sind lang und der Regennächte viele in den Alpentälern zwischen Salzburg, Bayern und Tirol. Der Dreißigjährige Krieg hatte auf lange Sicht Strukturen zerrissen, die Kleine Eiszeit wirkte sich verheerend auf die Landwirtschaft aus. Männer, Frauen und Kinder streifen bettelnd über Land, zwischen den Grenzen treibt es ganze Banden elternloser Kinder um, die sich mit Betteln, Stehlen und Erpressungen durchbringen. Solche Rotten Verelendeter hat schon Martin Luther beschrieben, doch nun sind es viel mehr, und auch die Bauern selber leiden Not.
Die Kirchenfürstenländer der Barockzeit wollen weder Protestanten unter den Bergknappen und Bauern noch Hungerleider. Witwen, ledige Mütter, Waisen und Behinderte schiebt man wie die Nicht-Katholischen ab. Den einen ließen sich die Kinder von Rechts wegen zur Umerziehung abnehmen. Gegen die Sprösslinge der Hungerleider musste Erzbischof Max Gandolf von Kuenburg ein ungewöhnliches Rechtsmittel erfinden: Der geistliche Landesfürst von Salzburg, obschon bereits ein Mann der Aufklärung, so ebenso noch der Gegenreformation, kriminalisierte die Unterstandslosen mithilfe der seit gut einem Jahrhundert abgeschafften Inquisition.
Als die Barbara Kollerin, bei verwehrtem Aufenthaltsrecht im Stammland, im Namen ihres Sohnes Jakob gegen den Abdecker klagte, der ihnen die laut Gewerbeordnung zustehende Erbstelle eines Gerbers streitig machte, ließ sich die renitente Person in einem Hexenprozess unschädlich machen. Sie wurde hingerichtet. Die Vorgehensweise wurden nun auf weitere Flüchtlinge angewandt. Die Habenichtse setzten den Bauern zu, die ihnen weder Essbares noch für eine Nacht ein Dach überm Kopf gaben, indem sie drohten, sie würden den Stadel anzünden, ihnen die Krätze wünschen oder Schlechtwetter herbeizaubern. Amtsdeutsch nannte man derartige Erpressungen Schadenszauber bzw. Wettermacherei; das Zusammenrotten von Straßenkindern, zum gegenseitigen Schutz, wurde der Strafbestand: gefährliche Bandenbildung.
Eine Flut von Bezichtigungen und Denunziationen führte in den Jahren zwischen 1675 und 1690 zur Anklage von insgesamt 232 Menschen, die jüngsten etwa drei, vier Jahre alt. 167 (Über-10-Jährige) richteten die Behörden nach Anwendung der Folter auch hin. Wegen der Überfüllung der Gefängnisse musste für die Bettlerbuben in der Stadt Salzburg eigens ein Hexenturm errichtet werden. Schließlich wurden die zeugenaufwändigen Prozesse wegen der hohen Gerichtskosten eingestellt.
Jackl Koller selbst ließ sich allerdings selbst bei erhöhtem Kopfgeld nicht fassen; wohl aber Kinder, die ihm zugelaufen waren und unter Folter aussagten, sie hätten ihn beim Unsichtbarmachen, im Pakt mit dem Teufel und als Herbeizauberer von Mäuseplagen und Schlechtwetter, um geizigen Bauern zu schaden, erlebt. Die Phantastik seiner angeblichen Taten stieg mit der Dauer von Jackl Kollers Verschwinden. Wahrscheinlich war der freche Opferstockdieb längst tot.
Birgit Schwaner, im Broterwerb Sachbuchautorin, reichert die Dokumente dieses Elends mit allem Möglichen an, das zur selben Epoche gehört, ohne dass es der oberflächliche Betrachter zusammengebracht hätte. Sie tut das in einem wahren Sternenregen aus Assoziationen, lustvoll belesen und sprachvirtuos.
Der Titel „Jackls Mondflug” erinnert an Gerdt von Bassewitz' Kinderbuch „Peterchens Mondfahrt“, wo ein Bub von der Sternenwiese in ein Weltraumabenteuer aufbricht. Bei Schwaner prägt ein Mädchen die Geschichte, Jackl. Sie erleidet kein trauriges Sterntalerschicksal, sondern ist eine sehr aktive Heldin: Dem historischen Opfer Jakob erfindet Schwaner in einem Akt literarischer Wiedergutmachung die Zwillingsschwester Jakobine. Mit der rotblonden Jackl geht es in dem Maß bergauf, wie es mit dem dunkelhaarigen Jackl bergab gehen musste.
Die ausgeheckte Protagonistin entkommt ihrem Schicksal, indem sie erst einmal dem Onkel, an den die Mutter sie verschachert hat, davonläuft. Vielmehr wird sie als Gehilfin eines venezianischen Devotionalienhändlers durch ganz Europa reisen. Mit Büchern und Erzählungen aus der weiten Welt im Gepäck kann Jackl lernen. Für geraume Zeit verschlägt es sie von der Landstraße sogar an einem frühneuzeitlichen deutschen Fürstenhof, an die ruhige Seite von Planer und Bibliothekar Luca. Dort macht sie – quasi Vorläuferin André Hellers – das Feuerwerken zu ihrem Beruf.
Während im Salzburgischen ihr echter Bruder verdammt wird, fährt die erfundene Heldin von „Jackls Mondflug” im Finale in Wien zum Himmel auf. Hier am Kahlenberg – sagen die Historiker – rettete der polnische Feldherr Sobieski das Abendland, er sprengte die Belagerung der Stadt durch die Osmanen.
Schwaners Heldin schießt allerdings nicht aus Kanonen auf Menschen, sondern befreit sich selbst mit dem Flug zum Mond: Bei dessen Bewohnern, den Seleniten, erhofft sie sich ein gerechteres Leben – als hätte sie den Gruß der Mondbewohner „Songez à librement vivre“ („Seid bedacht, frei zu leben!“) bei Cyrano de Bergerac1 gelesen, der zu Jackls Zeit utopische Romane verfasst hat.
Bewusst oder unbewusst: Literarische Vorfahren hat Schwaner viele: Jonathan Swift lässt 1726 „Gulliver” zur ungerechten Welt alternative Gesellschaften erleben. Der antike Plinius dachte sich phantastische Meereswesen aus, von denen Jackl liest und das Wundern lernt.
Die Autorin kontrastiert das Bildungsprogramm: Vorstellungskraft mit dem Wirken von Gerüchten unter den Schwachen der Gesellschaft. Sie erfindet als Nebenfigur Schinder-Bärbels Cousine „Annerl“. Die hört von einem wohl für eine Wunderkammer bestimmten „Hellfanten“ und verfällt in einen verzückten Wahn vor einem solchen Goldenem Kalb. Schwaner bezieht diesen Handlungsstrang vom ersten Elefanten, der 1626 die Welt in Staunen versetzte. Das exotische Geschöpf sollte wohl Sensationslust oder Neugierde der Herrschaften befriedigen, doch hier richtet es Schaden an. Die dem Wahnsinn verfallene Tante hält sich für eine Prophetin und scheitert. – Eine Generation später gerät ihr die lernbegierige und begeisterungsfähige Nichte Jackl nach; mit dem Unterschied, dass sie keine Unwissende bleibt, sondern beherzte, belesene Lernende und mutige Himmelstürmerin, bereit für die weibliche Artusrunde einer Schwanerschen Schwesterschaft lunarischer Genies.
Im Allerweltsnamen des unseligen „Annerl“ für diese Nebenfigur schwingt der mit, den der kritische Realist Gerhart Hauptmann im Armutsmärchen „Hanneles Himmelfahrt“ einem gretchenartigen Mädchen verliehen hat. Sein Annerl geht mit reinem Gewissen von der Erde, von so genannten anständigen Menschen missbraucht und moralisch verdammt. Davor hat Clemens Brentano das Zerr-Märchen „Die Geschichte vom braven Kasperl und dem lieben Annerl“ verfasst, worin junge Leute durch den Moralbegriff zugrundegehen, auf den sich die eigentlichen Täter berufen.
„Jackls Mondflug“ nimmt alle diese Impulse mit in den Erzählstrang. Birgit Schwaner tut, was sich mit den Mitteln der Kunst wiedergutmachen lässt: Sie spinnt – „einen roten Faden”, wie sie die kommentierende Erzählerin sagen lässt –, und stellt ein gutes Ende her.
Außergewöhnlich ist, dass Schwaner ihren Wunsch nach später Gerechtigkeit nicht als gute Idee für eine Geschichte stehen lässt, sondern in aller Tiefenstruktur vorantreibt, mit der Sprache wirksam werden kann: Schwaner heilt mit verschiedenen schöpferischen Methoden. Sie erzählt, vor allem im ersten Teil, in lyrischer Prosa, im sanften Gezeitenschunkeln antikisierender Langzeilen. Behäbig von Zeile zu Zeile schwingen die Metren. Die Autorin lindert das Schicksal der Unglückseligen durch den Trost des Erzähltbekommens. Als das Drucken noch nicht Verbreitungsmittel von Nachrichten war, bereiteten Geschichten Vergnügen und ließen lernen, wer zum Wärmen und Ausruhen zusammensaß.
Alle möglichen Tiere, die es besser meinen als ihre grausamen menschlichen Herren, lässt Schwaner die traurige Wirklichkeit der menschlichen „Sterblinge” begleiten: einen weisen Rabenchor aus der Mythologie, quasi die nordische Variante der Minerva, und den Pinsch, namensverwandt dem Gefährten der Heldin, Ping, ihres früheren Buchs „Polyphems Garten”, und treu wie der „Mops” ihres Slatin-Romans. Das lebendige Hündchen, das in der Malerei Anhänglichkeit meint, ist gleich einem heiteren Geist immer an der Seite der Ausgestoßenen – im Gegensatz zum menschlichen Mitgefühl, das den Realpersonen nicht zuteil wurde. Die Quicklebendigkeit des treuen Pinsch hebt selbst auf, dass Hundefett und abgezogene -felle zu Notzeiten die Lebensgrundlage der Tierkadaververwerter bilden. Ihnen stehen die Vierbeiner im Roman bei, indem Gerber und Abdecker bei Mangel an kostbaren Tieren Straßenkötern das Fell über die Ohren ziehen müssen. Je karger die Zeiten, desto härter der Umgang mit den Fürsprachlosen: das „Wölfische” an der Gesellschaft.
Auch die Farbgebung der Bilder im Kopf, die einem beim Lesen der Jackl-Erzählung kommen, gestaltet Schwaner: In der erzählten Echtwelt herrscht düsteres Graubraun. Erst Lapislazuli hellt die Lehmfarbe der Unausweichlichkeit auf, ein kostbares Mineral aus dem fernen Afghanistan. Das himmelblaue Pigment ist für den Hintergrund von Madonnen gedacht. BettlerInnen, die nicht in Gotteshäuser dürfen, bekommen es nur zu sehen, wenn sie sich in ein Kirchlein eingeschlichen haben, um mit einer klebrigen Feder Münzen aus dem Opferstock zu fischen. Das war des Burschen Jackl Geschäft. – Anders bei seiner ausgedachten Schwester: Den Schreckmoment, in welchem der versoffene Geistliche in Schwaners Geschichte den kostbaren Farbstoff verschüttet, nutzt sie zur Flucht in die Kutsche des Präziosenhändlers Francesco (der auch nur ein Franz ist...) und entkommt darin ihrem Bettelclan. Nach Lehr- und Wanderjahren bringt es Jackl zu mehr als der auf einer Mondsichel schwebenden Madonna, die in diesem Jahrzehnt der Kunstgeschichte gerade modern war. Sie übertrifft das dem Volk gebotene Marien-Ideal und wird selbstständige Mond-Reiterin.
Das stärkste Werkzeug zur Demonstration der Gedankenfreiheit ist in „Jackls Mondflug” die Erzähler-Instanz, die bei Schwaner das Knäuel mit Geschichtengarn nach vorn und nach hinten schubst. So führt sie schon im I. Teil der Erzählung alle Personen ein, treten sie auch erst -zig Jahre später auf. Das punktuelle einzige Ereignis bleibt Jackls Geburt. Schwaner schildert, wie nasskalt die Existenz beider Jackln beginnt, die wie das Christkind in einen Stall geboren werden. Mit einigen Vor- und Rückgriffen erfahren wir den Tod des Vaters Kilian und der (für Jakobine) geistigen Mutter Annerl.
Die stellenweise nur angerissene Handlung überwiegen, konstant im genüsslich-gemächlichen Metrum, Kommentare und Vergleiche zum Geschehen, v.a. Unmutsbekundungen darüber, was Zeit und darin mächtige Figuren dem Kind antun. Dass die Kommentator- und auktoriale Erzählerstimme zeitungemäß redet, mit heutigem (Ge)Wissensstand aus Psychiatrie, Medizintechnik und Popmusik, zum Teil in englischen Phrasen, stört überhaupt nicht. Vielmehr zeigt sich darin der Eifer, nie liegen zu lassen, was einmal Ungerechtes war, und Auswege mit jeder neuen Sprache und Wissenschaft neu zu suchen, wenn auch nur in der Phantasie.
Teil II illustriert die Lebensumstände, unter denen ganze Familien sich durch die Täler zwischen Salzburg und Bayern schnorrten, darunter die mit Kindern und Annerl ausgewiesene „Schinder-Bärbel”. Schwaner führt interessante Charaktere wie den „Pez” ein, einen versoffenen Jesuiten, der sich später in der Geschichte fängt und den Kindern in der „Bettlerschul” mehr als Gaunertechniken beibringen kann.
Charaktere wie ihn hat Schwaner entweder ausgedacht oder aus dem Materialfundus bezogen wie die Figur des Buben Dionys. Dieser konnte wegen eines physischen Leidens den Kopf nicht heben und sagte unter der Folter aus, Jackl hätte ihm das Gebrechen weggezaubert, sodass er nun Sterngucker hieße. Wie den Prozessakten zu entnehmen ist, sorgte die Hinrichtung des verwachsenen kleinen Kerls für Aufsehen. Dem Scharfrichter passierte das Missgeschick, dass der ungewöhnliche Schädel nicht beim ersten Hieb ab war.
Im selben Teil lesen wir von Jackls Flucht auf die Kutsche und ihren Fahrten. Nach Tod ihres Dienstgebers hört sie von der Hexenverbrennung der Mutter und der steckbrieflichen Suche nach Bruder Jackl. Bei Luca liest sie (Cyrano und Plinius), wird Feuerwerkerin, stellt den „Sternenstaub”, mit dem sie die Mondrakete bauen wird, ihren Know-how-„Helffanten”, künstlich her.
Teil III ist ganz kurz: Die Protagonistin setzt sich über die Schwerkraft hinweg, hebt mittels „Mondflug” ihr unentrinnbares Erdenschicksal auf. Der Raketenabschuss, während dessen Luca herunterfällt, könnte Meliès erstem Spielfilm „Die Reise zum Mond” (1902) abgeschaut sein:
Erzähltechnisch geht Schwaner auf mehrere Spielweisen vor: Als musikalische, leidenschaftliche Autorin kennt sie die Geschichte der aleatorischen Poesie und experimentiert gern, wie Protagonistin Jackl, mit den Regeln: Sie spielt sie nach – wie es Jackl gemacht hätte. An drei oder vier Stellen bringt Schwaner Zitate aus dem schmalen Werk des österreichischen Experimental-Gurus Reinhard Priessnitz – „Schlafe, falsche Flasche” und „Lage? - egal” – ins Spiel und lässt sich von den Buchstaben lettristische Orakelhölzchen werfen. Manchmal gehen die Anagramme gar nicht auf: „Goldfund” und „Mondflug" etwa, das Gegensatzpaar zwischen dem, was im historischen Land Salzburg zählte, und dem, was für die ausgedachte Jackl von Wert ist. Verballhornung des Gesetzten verhilft in diesem Sinne zur Schaffung befreiend neuer Verhältnisse.
Schwaners Versuchsanordnung ist so reich an Einfällen und Zufällen, Gegensatzpaaren und Gegenentwürfen, an sachkundigen Realien und philosophischen Überlegungen, dass es anstiftend wirkt.
Oft lassen sich Menschen nicht gut helfen; sich mit guter Kraft anstecken allemal.
- 1. („Les États et Empires de la Lune / Die Staaten und Reiche des Mondes“) und („Les États et Empires du Soleil / Die Staaten und Reiche der Sonne“) sind 1657 bzw. 1662 postum erschienen.
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