Maligne Blüten
Es gibt, grob umrissen, zwei Möglichkeiten, an ein nicht-zeitgenössisches Gedicht heranzugehen: man betrachtet es im historischen Kontext oder man überprüft es auf seine Bedeutung für den heutigen Leser. Im Idealfall läßt beides sich elegant miteinander verbinden, doch zwingend nötig ist eine solche Verknüpfung nicht. Über Charles Baudelaires berühmten Zyklus „Die Blumen des Bösen“ wurde längst eine Vielzahl interessanter, thematisch ganz unterschiedlicher Diskurse angestoßen, trotzdem soll es hier einmal nur darum gehen, in welcher Weise diese immerhin rund 160 Jahre alten Gedichte den Leser, die Leserin jetzt noch anzusprechen vermögen. Anlaß dafür bietet die neue Übersetzung von Simon Werle, die ohne Übertreibung als Sternstunde der Translationskunst anzusehen ist. (Dem entspricht im Übrigen die Buchgestaltung, der nur eine Fadenheftung noch zur höchsten Güte fehlt.)
Man muß ein Buch ja nicht goutieren, nur weil ihm das Etikett „Klassiker“ verpaßt wurde. Andererseits sind die Siebe der Zeit meist recht zuverlässig. Den Ruch des Verruchten, der manche von Baudelaires Zeitgenossen an den „Fleurs du Mal“ gestört und zum gerichtlichen Prozeß getrieben hat, ist inzwischen freilich verflogen. Doch kann das Lesepublikum ihm durchaus noch imaginativ nachspüren. Im Nachwort legt der Übersetzer schlüssig dar, daß die Übersetzung des (nebenbei: auf den Kritiker und Romancier Hippolyte Babou zurückgehenden) Titels eigentlich — wenig wirkungsvoll, wie er selbst einräumt — „Die Blumen des Malignen“ lauten müßte. Denn nicht die Feier satanistischer Umtriebe steht zur Debatte, sondern die Qualen der Seele in der modernen, mondänen Gesellschaft, in den Großstädten, unter Betäubungsmitteln, die eine verlorene Mitte herstellen sollen. Insofern kommt tatsächlich, wie Baudelaire im Entwurf einer Verteidigungsschrift im Prozeß gegen der Vorwurf der Gefährdung der Sittlichkeit sagt, eine „furchtbare Moralität“ zum Vorschein.
Die „Blumen des Bösen“ sind ein über einen langen Zeitraum entstandenes und immer weiter vermehrtes, letztlich aber nach den Intentionen des Dichters nicht abgeschlossenes Werk, das auf einer strengen Gesamtkomposition beruht. Bemerkenswert ist das Bemühen, größtes leidenschaftliches Aufbegehren in eine sprachliche Form zu bringen, die höchsten ästhetischen Ansprüchen genügt, eine Revolte also, die zur Schönheit gebändigt ist. Diese Schönheit entsteht aus der Spannung zwischen dem „Spleen“ und dem „Ideal“, die zuletzt nur aufgelöst wird in der Aussicht auf das absolut Neue, die Fahrt zum „Grund des Unbekannten“, wie es im Schlußgedicht der Ausgabe von 1861 heißt, einerlei, ob dieser im Himmel oder in der Hölle zu finden ist. Die „Blumen des Bösen“ sind eine Revolte gegen den Überdruß und ein Aufschrei gegen einen ungeschminkten Realismus; ihr Seismograph legt die Verwerfungen der beginnenden Moderne schonungsloser bloß, als ein nicht-delirierender Blick dies vermöchte, ihre kritische Auseinandersetzung ist vor allem eine schöpferische Auseinandersetzung. Der Wörteraufruhr stellt somit das einzig noch wirksame Rauschmittel dar, da kurz vorm Schlaf und Tod (die man, angesichts von Baudelaires dandyhaften Lebensstil, wohl nur als Chiffren des Unmuts interpretieren darf), in das künstliche, d.h. von der Kunst geschaffene Paradies führt. Den Symptomen der politischen und geistigen Krisis eine abstrakte Form zu geben, die weit entfernt von ungestaltem Geschrei ist, mag Baudelaires bedeutendste Errungenschaft sein.
Kaum der Erwähnung bedarf die Selbstverständlichkeit, daß eine Übersetzung in den seltensten Fällen sämtliche Aspekte eines Werks in die Zielsprache transportieren kann. Ihr vorzuwerfen, sie habe dieses oder jenes unterlassen, hieße im Grunde, die berühmte Quadratur des Kreises für möglich zu halten. Simon Werle hat für seinen Ansatz einen Ton gefunden, in dem dramatisch-lyrische und galante Formeln sinnvoll und ansprechend ausbalanciert werden. Als Beispiel mögen die ersten beiden Strophen des allegorischen Gedichts „L’albatros / Der Albatros“ dienen:
Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage
Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers,
Qui suivent, indolents compagnons de voyage,
Le navire glissant sur les gouffres amers.À peine les ont-ils déposés sur les planches,
Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons traîner à côté d’eux.
So berühmt wie zu recht vielgeschmäht ist Stefan Georges Übertragung, die in ihrer Eigenwilligkeit viel vom Übersetzer, jedoch wenig über den Ausgangstext verrät, da sie allzu ungenau über wesentliche Details hinweghuscht; kurios sind die grammatischen Verstöße ebenso wie etwa die sehr freie Übersetzung der „gouffres amers“ als „schlimme klippen“:
Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen
Die albatros · die grossen vögel · fängt
Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen
Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt.Kaum sind sie unten auf des deckes gängen
Als sie · die herrn im azur · ungeschickt
Die grossen weissen flügel traurig hängen
Und an der seite schleifen wie geknickt.
Viel näher kommt Monika Fahrenbach-Wachendorff dem Original, hier nach der revidierten Version ihrer Gesamtübersetzung von 2011 zitiert, sie rettet die Wendung „maladroits et honteux“, bringt allerdings bereits in der zweiten Zeile, die unschön mit einem Reflexivpronomen beginnt, ein Enjambement und faßt „les ont-ils déposés“ als aktives Geschehen auf:
Oft fangen die Matrosen zum Vergnügen
Sich Albatrosse, welche mit den weiten
Schwingen gelassen um die Schiffe fliegen,
Die über bittere Meerestiefen gleiten.Wenn sie sich linkisch auf den Planken drängen,
Die Könige der Bläue, wie verlegen
Und kläglich da die weißen Flügel hängen,
Ruder, die schleppend sich zur Seite legen.
Simon Werle gelingt es, trotz Reim und Metrum, sich noch etwas dichter an Baudelaires Text zu halten. Zwar muß auch er die Wendung „maladroits et honteux“ in ein sinnverwandtes „der Hoheit bar“ umformulieren, aber es stimmt wunderbar zu den „Königen des Azur“. Nähe und kreative Freiheit stehen in einem Gleichgewicht, das die Übersetzung einerseits verlässlich erscheinen, andererseits als eigenes Kunstwerk bestehen läßt.
Matrosen fangen — so vertreiben sie die Zeit —
Oft Albatrosse, Riesenvögel überm Ozean,
Des Schiffs Verfolger in gelassenem Geleit,
Wenn’s überm bittren Abgrund zieht die Bahn.Kaum haben sie hinunter auf die Planken sie gezerrt,
So lassen diese Könige des Azur, der Hoheit bar,
Die großen weißen Fittiche bejammernswert
Von ihren Flanken schleifen wie ein Ruderpaar.
Sicherlich stellt Simon Werles Übersetzung einen neuen Höhepunkt der deutschen Rezeptionsgeschichte der „Fleurs du Mal“ dar, indem sie die Genauigkeit mit dem Verzicht auf hypertrophes Nachdichtertum verbindet, wie es z.B. Georges Übertragung charakterisiert. Sehr bedauerlich ist darum das Fehlen jeglicher Anmerkungen, die einige zum tieferen Verständnis notwendige Fakten geliefert hätten. Es empfiehlt sich also, die eine oder andere kommentierte Ausgabe danebenzulegen, um „das letzte lyrische Werk [...], das eine europäische Wirkung getan hat“, wie Walter Benjamin in seinem bedeutenden, keineswegs überholten Essay „Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ so treffend formuliert, in vollem Umfang seiner geistigen Spannweite zu erfassen.
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