Das Fest des Kostens des ersten Reises
Die Andere Bibliothek veröffentlicht mit dem schmalen Bändchen Japanische Märchen ein erstaunlich gelungenes Konvolut vor allem sprachlich raffinierter Prosa. Einige Motive kommen sehr vertraut vor, anderes hingegen, besonders die unverstellte Art aus dem Kosmos der Fabelwesen zu berichten, stets mit einer Prise gut getimten Humors, macht die Sammlung zu weit mehr, als der Genre-Begriff „Märchen“, der auf dem Klappentext noch dazu völlig unnötig mit den Herren Grimm in Verbindung gebracht wird, erwarten lässt. Es sind mehrdeutig moralisierende, phantastische Begebenheiten aus einer Zwischenwelt, in der den Dingen, und nicht ausschließlich den Menschen, noch eine eigene Agenda zuerkannt wird. Ganz zu schweigen von den Tieren. (Mit ihren Freunden Wespe, Reismörser und Ei bringt die betrogene Krabbe schließlich den habgierigen Affen zur Strecke...) In heutigen Zeiten scheint die Welt aus Japanische Märchen wie ein alternativer Gegenentwurf, ja eine Verweigerung jener endlosen „Komplexität“ des Heute anzubieten. Selbstverständlich kommt eine konservierte „Tradition“, ein altvorderes Denken in Rollen und Hierarchien unkritisch auf eine unveränderliche Dauer angelegt, als narrative Grundvoraussetzung zum Tragen, und doch scheint eine Form achtsamer Bescheidenheit, liberaler Neugier und Akzeptanz ebenso als ein Katalog des Guten Verhaltens dieselbe Grundvoraussetzung zu sein. Dabei wird nichts proklamiert, sondern die Texte nehmen sich jede Freiheit, narrativ ausleben zu können, was sie selbst sein wollen. Nämlich höchst ambivalente Kunst, bei denen ebenjene Grundannahmen nicht selten völlig konterkariert werden.
Es scheint Erzählstimmen zu geben, die wie beinahe hilflose Agenten vortragen, was sie vortragen, um es selbst kein bisschen zu verstehen. Nicht wenige Prosa endet mit Refrains wie „Mir wurde einmal gesagt, dass er jener Stern da oben sei.“ Oder: „Meine Geschichte, so bescheiden wie ein Stück Kartoffel, geht schon zu Ende.“ Oder: „Wohin mag er dann gegangen sein? Es ist schon lange her. Eine Weihe fliegt schnell davon. Sauerampfer bleibt nur einen Augenblick frisch. So geht auch meine Geschichte rasch zu Ende.“
Es gibt emanzipierte Kurzprosa, sowie einige längere, sehr minimalistische gehaltene Geschichten, die so offen, zusammenfassend gehalten sind, das man sie sich gut als bis ins endlose ausgeschmückte Abende/ Nächte vorstellen kann. Überraschende Perspektivwechsel, Reisen in nicht für mögliche gehaltene Transitzonen, ulkige Dialoge, Wechsel von Pathos und Unverstelltheit gesellt sich zu absolut cartoonishen Verwicklungen, in denen ein beinahe autoritätsloses System von Tugend und Sünde das eine wie das andere auslöst, nicht selten auch in einem tragisch bis in die Ewigkeit währenden Loop enden lässt. Highlights sind die Rip van Winkle-artige erste Geschichte, außerdem die Fuchsfrau und ganz besonders Der Wurzelgallertedisput, die Missverständnisse unter Menschen, Fehlinterpretationen und die Religion aufs Korn nimmt. In Der Schneckenmann geht Der Schneck, „der Wassergottheit Wunschkind“ eines kinderlosen Paares auf Reisen.
[Der Menschvater] lud also die Säcke auf die Pferde, nahm den Schneck aus der Tasse auf dem Altarbrett und setzte ihn zwischen die Säcke auf das Leitpferd. Der Schneck rief nun: „Auf Wiedersehen, Vater und Mutter, die Reise geht los.“ Und mit Hü und Hott, mit Haidodo shit-shit leitete er die Pferde geschickt, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan.
Der Band ist gewiss nicht für alle was, aber wer sich drauf einlässt, wird belohnt. Innerhalb des unkritischen Rahmens passiert eine ganze Menge Unvorhergesehenes auf unverstellte, nie manierierte Art und Weise. Eine Miniatur in Gänze:
Der lange Name
Im Lande Etchu lebte einmal ein Mann, dessen erste Frau war gestorben und hatte ihm nur einen einzigen Sohn hinterlassen. Bald heiratete er eine zweite Frau und bekam auch von ihr einen Sohn. Die Stiefmutter haßte aber den Sohn der ersten Frau, und da sie seinen Tod wünschte, gab sie ihm einen ganz kurzen Namen und nannte ihn Chori-san. Denn sie glaubte, ein kurzer Name würde auch das Leben des Stiefsohnes verkürzen. Dem eigenen Sohn aber wollte sie einen recht langen Namen geben, damit das Kind auch ein recht langes Leben hätte. Nach vielem Hinundhersinnen gab sie ihm darum den Namen Onyudo-konyudo-mappiranyudo-hiranyudo-heitoko-heiganoko-hemetani-kameta-itchogiri-kachogirika-chochoranochogirika-shikishikiandono-heianji-temmoko-mokudono-eisuke. Als die Kinder einmal am Fluss spielten, fiel Chori-san vom Deich in den Fluss. Leute, die vorübergingen, sahen es und riefen: „Chori-san ist in den Fluss gefallen.“ Als der Vater dies hörte, lief er sofort dorthin und rettete ihn vor dem Ertrinken. Ein anderes Mal fiel der jüngere Bruder beim Spielen in den Fluss, und die Leute, die das gesehen hatten, riefen: „Onyudo-konyudo-mappiranyudo-hiranyudo-heitoko-heiganoko-hemetani-kameta-itchogiri-kachogirika-chochoranochogirika-shikishikiandono-heianji-temmoko-mokudono-eisuke ist in den Fluss gefallen.“ Bis die Eltern wegen des langen Namens aber hörten, was dem Kinde zugestoßen sei, hatten die Wellen es schon weit davongeführt, und es war schon längst ertrunken, als sie, um es zu retten, an den Fluss kamen.
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