Beschmierte Wände und schreiende Sternenbilder
Während einer Lesung seines letzten, lustigen, aber wenig ambitionierten Buch „Bot. Gespräch ohne Autor“ meinte Clemens Setz beiläufig, dass für ihn heutzutage die Aufgabe der Literatur eher darin bestünde, (Leser oder Autor?) Trost zu spenden und nicht ein strikt negatives Verhältnis zur Welt zu wahren. Bei einem Autor aus Graz, wo Nestbeschmutzung seit Jahrzehnten zum guten Ton gehört, irritiert diese Aussage zunächst. Aber „Trost spenden“ ist nicht gleichzusetzen mit „Erbauung“, geschweige denn ungehemmter Positivität, Alles-Einfach-Geil-Finden. Der Begriff „Trost“ ist komplex, sein Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch sogar ellenlang. „Zuversicht“, „Sicherheit“, „Vertrauen“, „Hilfe“ und etliche weitere relativ abstrakte Vorstellungen und Haltungen werden mit „Trost“ in Verbindung gebracht. Wie etymologisch-vertrackt Herkunft und wie weit der Bedeutungshorizont dieses Einsilbers mit dunklem Vokal auch sein mag: Trost braucht, wer trauert. Wer trauert, dem mangelt es an etwas. In der Psychoanalyse würde man von verlorenem Liebesobjekt sprechen. In der Regel geht es um Verstorbene. Wenn Schreiben etwas mit Trost spenden zu tun haben sollte, dann ist damit nicht gesagt, dass es der Literatur gelingen muss, eine Leere vollends zu füllen, sondern die minimale Sympathie für das und Affirmation dessen, was ist, einzugehen, damit man überhaupt einen Bezug zur Welt herstellen kann.
Setz‘ neuestes Buch, ein Band mit Erzählungen, trägt den Titel „Der Trost runder Dinge“. Es finden sich einige runde Dinge in den Texten, die man womöglich als tröstlich deutet. In einer Erzählung, die als Vorlage für einen Film von Setz‘ Landsmännern Michael Haneke oder Ulrich Seidl passend wäre, fällt der Titel sogar wortwörtlich:
„Die meisten Dinge in der Stadt wirkten im Winter um vieles weicher und runder, und der allgemeine Trost runder Dinge ist etwas, für das die Dauer eines normalen Menschenlebens glücklicherweise nicht ausreicht, um dagegen immun zu werden.“
Diese friedlichen Betrachtungen sind Teil der Geschichte „Zauberer“ und vielleicht als innere Rede der Protagonistin Frau Mag. Annamaria Perchthaler — ein tief österreichischer Name, auch wegen der pedantischen Titelträgerei — zu verstehen. Sie bestellt sich einen Escort-Boy, der sich Jürgen nennt, aber eigentlich Chris heißt. Die Konstellation wird jedoch erst durch eine dritte Figur kompliziert: Perchthalers sechzehnjähriger Sohn Mario, der nach einem Unfall im Koma liegt, bei ihr zuhause, dabei „nicht altert“, wie sie beobachtet. Sie fordert von Jürgen mit ihm im Beisein ihres Sohns zu schlafen: „Er bekommt nichts mit.“ Was folgt, ist ein bedrückender Dialog, indem darum gerungen wird, ohne diesen Wunsch vorgeblich zu verstehen — Setz schaut nicht in Jürgens Kopf —, ihn genauso wenig zu verurteilen. Am Ende steht die Bestellung eines anderen Mannes, „der für alles zu haben ist“, mittels App.
In der vermeintlich absurden kleinen Handlung zeigen sich ganz plausibel die Verhängnisse moderner Kommunikationsangebote: Pausenlos wird Nähe in Möglichkeit gestellt. Ein Bedürfnis wartet auf seine Erfüllung per Klick. Das Problem ist, dass die Menschen immer noch mehr sind als ihr Profil. In der ersten Erzählung, die mit ihrer Autoreferentialität auf Autorschaft und einer Albtraum-artigen Wendung weniger gut gelungen ist, sieht der Erzähler am Flughafen in den anderen Menschen nur noch NPCs. Das ist Computerspielsprache und heißt Non-Playable-Characters.
In der Geschichte „Suzy“ schreibt ein Schüler seine Handynummer auf das Klo eines Striplokals und ergänzt darunter den Satz „Mein Mund wartet auf dich“, bevor er vom Türsteher entdeckt wird. Bei den ersten Anrufen findet er es noch amüsant, wenn sich Männer melden und er ihnen erzählt, diese Suzy sei seine Mutter und er dürfe eigentlich nicht ans Telefon, sondern werde immer weggesperrt, weil sie unentwegt Kunden empfange. Wenn dann aber ein Anrufer darauf drängt, ihn vor dieser verantwortungslosen Vernachlässigung der Sorgepflicht zu retten, ist das Spiel nicht mehr lustig. Wie soll der Junge das seinen Eltern — face to face — sagen?
In „Spam“ lesen wir die Mail einer Frau, die sich in einem mittels Übersetzungsprogramm ins Deutsche gebrachten Text an einen Mann wendet, der der Vater ihres mittlerweile studierenden Sohns sein soll und für dessen Unterhalt sie Unterstützung benötigt. Die Mail bleibt unbeantwortet.
Eine Geschichte nicht bis ins letzte zu Ende zu erzählen, gibt vielleicht der Hoffnung Raum, die mit Trost zu tun hat. In „Otter Otter Otter“ geht um die Beziehung von Gregor zu Anja. Gregor putzt und kellnert, um sich über Wasser zu halten. Anja ist blind. In ihrer Wohnung sind, wie auf der Toilette des Strip-Clubs, die Wände vollgekritzelt. Aber nicht von Anja selbst, sondern von einem oder mehreren Unbekannten— und zwar mit übelsten Beleidigungen. Zwischen „SLUT SLUT SLUT“-Schriftzügen küsst sich das Paar und Gregor schafft es nicht, Anja darüber aufzuklären. Trotzdem ist Anjas Wohnung, den schriftlichen Umständen zuwider, der Rückzugsort aus dem entbehrlichen Alltag. Ob Gregor zum Schuss, um nicht „geisteskrank“ zu werden, wie er sagt, Anja tatsächlich erzählt, was auf ihren Wänden steht, bleibt offen.
Nicht von quasi unaussprechlichen Beleidigungen mit Edding-Stift auf Wänden, wird der saarländische Maler Bernhard Conradi verrückt, sondern von einer anderen Konstellation: Ein Sternbild, das er den Großen Burschen oder Fronleichnam nennt, was aber niemand außer ihm versteht. Der Erzähler, wiederum ein Autor, erkennt das Sternbild selbst in diesem Zitat selbst nach einer Lesung.
„Ein menschliches Gesicht, das offenbar schreit, aber dabei den Mund nicht besonders weit aufbekommt. Es wirkt eher wie jemand, der mitten in der Hölle unvermittelt zu singen beginnt.“
Auf rund 300 Seiten erwarten den Leser zwanzig Texte. Einige der kürzeren sind in gewisser Weise Setz-Selbstläufer. In den zitierten Erzählungen und in „Geteiltes Leid“, der Geschichte eines unter Panik-Attacken leidenden Vaters, der wie der berühmte Rotwein Zweigl heißt, gelingt Setz eine intensive, bedrückende Prosa. Gerade weil sein Realismus, den man vielleicht unwahrscheinlich findet, offen konstruiert wirkt aber nicht besserwisserisch konzeptuell ist, eine bedrohliche Stimmung in Alltäglichem aufkommt, ohne psychologische Vivisektionen bemühen zu müssen.
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