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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein Album surrealistischer Ideen

Clemens J. Setz veröffentlicht Nacherzählungen früher Geschichten
Hamburg

Im Januar 2014 berichtet Clemens J. Setz auf dem Suhrkamp-Blog Logbuch von einer wiedergefundenen Mappe mit frühen Geschichten aus den Jahren 2001 bis 2003 und veröffentlichte die Liste der Titel, da sie ihn an die Gedichte John Ashberys erinnerten. Der Autor versprach: „Die ersten fünf Erzählungstitel, die in den Kommentaren zu diesem Post genannt werden, werde ich im nächsten Blogeintrag nacherzählen, mit Textproben. Auch die wirklich peinlichen. Ich werde es bereuen.“

Ein Jahr nach dem öffentlichen Experiment, alte Texte wiederzubeleben, erscheinen diese Nacherzählungen nun in Buchform unter dem Titel Glücklich wie Blei im Getreide. Setz hat es also scheinbar nicht bereut. In 45 kurzen Texten gibt er Einblick in sein frühes Schreiben, seine teilweise skurrile Ideenwelt war schon damals sehr stark ausgeprägt. So erfährt man beispielsweise auf der Texttafel vor dem neunten Gehege vom Affen Pierre, der an einem Tinnitus leidet. „Und einmal im Jahr, meist im Herbst, versuche […] sich das Leben zu nehmen, was natürlich von den Pflegern verhindert werde. Für diesen Event seien allerdings, aufgrund des großen Interesses, Voranmeldungen nötig.“

Die Geschichte um den Affen Pierre wirkt aufgrund eines biografischen Details – Setz selbst hat einen Tinnitus – merkwürdig vertraut. Auch Der Meister des Obstklammer Altars hält einen solchen Wiedererkennungswert bereit. In der Geschichte geht es um ein Altarbild, das 113 mutwillige wie unerklärliche Zerstörungsversuche überstand. Dass ein Kunstwerk Ziel irrationalen Hasses seiner Betrachter wird, ist ein Motiv, das Setz später in der Titelgeschichte seines Erzählbandes Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes wiederaufnimmt. Dort wird die Lehmskulptur eines Kindes Ziel ungezügelter Aggression.

Durch solche Analogien bekommt Glücklich wie Blei im Getreide den Charme eines Sammelalbums der noch ungebändigten surrealistischen Ideen eines werdenden Autors. Dieser meldet sich in den Nacherzählungen des Öfteren erklärend, fast entschuldigend zu Wort und weist etwa auf „rätselhaft misslungene“ Sätze oder „mit dem Bauch nach oben treibende Metaphern“ hin. Durch Setz' unprätentiösen, selbstironischen Ton wird der Band also auch zu einer unterhaltsamen Dokumentation früher Fehlschläge und kreativen Scheiterns. So auch Das große Gefangenendilemma von Alrau, das der Schilderung des Autors zufolge vollkommen entgleist. „Am Ende sind beide Gefangenen in vollkommenen Nonsens verstrickt, lallen und pinkeln in die Hose. Sie werden, da sonst nichts mit ihnen anzufangen ist, zusammen in eine Zelle gesperrt – und beginnen dort zu vögeln. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht war es... ah, keine Ahnung.“

Doch nicht immer gleiten die Geschichten in absolute Unerzählbarkeit ab. Immer wieder finden sich in Glücklich wie Blei im Getreide Motive, die man sich wirkungsvoll in größeren Erzählzusammenhängen vorstellen kann. Oft entstehen sie durch die minimale Verschiebung eines Details und können so einen subtilen Horror erzeugen. Ein solches Motiv findet sich etwa in Wohin mit meiner Haut. Setz erklärt: „Dieser Text entstand, als ich meine Freundin einmal zum Frauenarzt begleitete. Ich entdeckte im Wartezimmer eine Broschüre für junge Mädchen, in der erklärt wurde, was es mit der Menstruation auf sich hat. […] Ich nahm sie mit nach Hause. Dort ersetzte ich jede Erwähnung von 'Blut' in der Broschüre durch 'monatlich auftretende Ganzkörperhäutung' und schrieb das Ergebnis ab.“

Clemens J. Setz
Glücklich wie Blei im Getreide
Mit Zeichnungen von Kai Pfeiffer
Suhrkamp
2015 · 114 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-518-46587-5

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