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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Riesige Verwüstung

Hamburg

Rassismus ist in unserer Republik wieder eine tödliche Gefahr: Unkalkulierbare, plötzliche, finale Destruktivität, die jeden treffen kann. Jüngst riss Wahn wieder zehn Menschen aus dem Leben. Die Sinnlosigkeit ihres Sterbens lässt einen ratlos und traurig zurück.

Das Naziregime zeigte, dass eine liberale Demokratie, fehlt ihr es an Demokraten, ins Rutschen geraten kann. Es bedarf nicht einmal einer Mehrheit, um ein politisches System in ein Feld des Wahns zu treiben, das letztlich industriell organisiertes Töten aufgrund wahnhafter „Kriterien“ abgegrenzter Minoritäten legitimiert. Ist einmal das System als Ganzes in die Inhumanität ver–rückt, sind gleichzeitig zu viele Individuen ebenfalls ver–rückt: Wahn tötet.

Wird man dann von der Geschichte wachgerüttelt, blickt man auf Leichenberge. Was folgt, ist kaum Scham, jedenfalls keine heilsam geäußerte, sondern graues Beschweigen. Ich besuchte von 1961 bis 1970 ein uraltes humanistisches Gymnasium in einer kleinen mittelhessischen Universitätsstadt: Eugen Kogons „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ war keine Lektüre der Oberstufe, die antisemitischen Verbrechen gegen die jüdischen Menschen im Ort waren kein Thema, bis zum Abitur wusste ich nichts von der Zerstörung der großen Synagoge während des reichsweiten Pogroms 1938. Die älteren Lehrer hatten am deutschen Vernichtungskrieg teilgenommen; mit ihrem grauen Schweigen hat diese Generation ganz und gar versagt.

Während seiner Pegida-Rede in Dresden im Februar 2020 sagte der Faschist im Thüringer Landtag, Björn Höcke, zu den unüberhörbaren Protesten junger Menschen gegen sein Auftreten in der Stadt, sie seien Beweis der „Bildungskatastrophe“ und derartige Formen der Zivilgesellschaft müssten „dann“ beseitigt werden.

Herr Höcke und die Gruppe, der er sich zurechnet, regional bis zu 25% der Wählerschaft, sind wieder im Rutschen oder besser sind wieder ver–rückt und das heißt: Ein Viertel der Wählerschaft droht wieder der Irrationalität anheimzufallen. Destruktiv wirkend hat diese Gruppe in kürzester Zeit einen Infekt des mentalen kollektiven Zustandes auszulösen vermocht, der zu viele Individuen in einer toxischen Verbindung von Verschwörungstheorien, individuellem gesellschaftlichem Versagen und Insuffizienserfahrungen zu Mördern werden ließ: Anfällige Individuen glitten bereits wieder über den  rechten Rand in den finalen Wahn.

Dagegen hilft vor allem Aufklärung: Es ist unabdingbar, genau zu wissen, wie die Stätten des historischen Wahns aussahen: Da ist zunächst das schon erwähnte Werk von Eugen Kogon: „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ aus dem Jahre 1947 zu nennen. Eugen Kogon war als Sozialdemokrat Häftling in Buchenwald. Er stellt vor allem die Organisationsstruktur des KZ-Systems ausgehend von seinen Erfahrungen in Buchenwald dar. David Rousset, französischer Trotzkist, blickt auch als Gefangener in Buchenwald auf das KZ-Universum, beschreibt aber umfassender die mentale Wirkung der Todesorte auf die Insassen.

Crémieux war in ernsthaften Schwierigkeiten. Er war mit demselben Transport angekommen wie wir, und ich war einen Monat lang sein Stubengenosse in Block 48 gewesen. Nach mehreren Verhaftungen war er körperlich zugrunde gerichtet. Er verbrachte Stunden auf seiner Bank an der Tür, vornübergebeugt und die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände hinter dem Kopf gefaltet: er kämpfte mit all seinem Starrsinn, um weiterzuleben. Das Sprechen ermüdete ihn. Trotzdem konnte er, wenn er gelegentlich eine Anekdote erzählte, ein Bonmot zitierte oder mit der Hand eine Silhouette in die Luft zeichnete, eine ganze untergegangene Welt auferstehen lassen. Sein Blick blieb lebendig, immer aufmerksam, voller Geist. Dieser Blick lebte in einem anderen Universum. Auch seine Art zu gestikulieren hatte Crèmieux sich bewahrt, und wenn er sprach, verfiel er automatisch in denselben Ton und dieselben Gebärden wie seinerzeit in seinem Büro bei der Nouvelle Revue Francaise oder in seiner Bibliothek. In der Zuchthausatmosphäre, die uns umgab, wirkte das wie eine Kampfansage. Einmal erzählte er uns von all den Büchern, die er gekauft hatte, und von seinem Plan, eine vergleichende Literaturgeschichte der Zwischenkriegszeit zu schreiben. Er sprach wie üblich leise, aber sein ganzer Oberkörper war in lebhafter Bewegung – für uns, seine Freunde aus Marseille und für mich, war es wie ein Traum, der vor unseren Augen entstand, ein beharrlicher, von Willenskraft getragener Traum. Draußen herrschten Wind und Schnee, und der Tag, an dem die Quarantäne vorbei war und wir würden arbeiten müssen, rückte drohend näher. Das ist unmöglich, sagte er und strecke uns die geöffneten Hände entgegen, wie um uns zu Zeugen anzurufen, wie außerstande zu verstehen, dass die Vernunft hier versagte. Dann stand er auf, ging gebeugt, mit eiliger Langsamkeit, zu seiner Pritsche und zog sich mühsam nach oben. [Benjamin Crémieux – Schriftsteller und Literaturkritiker, 1941 Mitglied der Widerstandsgruppe Combat, 1943 verhaftet, 1944 in Buchenwald umgekommen.]

Ein Deutscher, ein Jahr später als David Rousset im rumänischen Banat geboren und einst Student im faschistischen Berlin, sagte mir:

„Ich war in Oranienburg; es war ordentlich und sauber…“

Dies ist die Aussage eines historischen Faschisten, an die in unseren Tagen ein Neo-Faschist wie Björn Höcke mit seiner Forderung eines „Wandels der Erinnerungskultur um 180 Grad“ bruchlos anknüpft. Dagegen ist nur Aufklärung wirksam, wie sie ein Werk wie David Roussets Schilderung des KZ-Systems bietet. Und wenn Herr Alexander Gauland heute laut behaupten kann,

„[ wir] haben […] das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“,1

dann lese man Hitlers Einsatztruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938–1942“, Frankfurt 1985 von Helmut Krausnick. (Fischerverlage)

In verständlicher Resignation schrieb David Rousset 1945 am Ende seines Berichts:

Die Konzentrationslager haben Deutschland seiner Substanz beraubt.

Er mag damals Recht gehabt haben, aber mit der Gründung der Bundesrepublik und ihrer glücklichen Entwicklung zu einem freien, weltoffenen und die Vielfältigkeit der Welt und ihrer Menschen in sich aufnehmenden Land haben die Nachkriegsgenerationen trotz der mentalen Last der Shoah bewiesen, dass die Republik ein starkes, lebendiges, demokratisches Herz aufweist. Der rationale Verfassungspatriotismus lebt nicht zuletzt aufgrund der erwähnten (und zahlreicher nicht erwähnter) Texte, die kritisches, historisches Bewusstsein bilden. Sie fördern  Einigkeit der Demokraten fern üblen, völkischen Geblubbers aus dunklen Schächten.

Dem Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin, ist dafür zu danken, dass er David Roussets Bericht aus dem Jahre 1945 zum rechten Zeitpunkt zugänglich macht, ebenso Olga Radetzkaja und Volker Weichsel, die den Text in klares, elegantes Deutsch brachten und auch Jeremy Adler für sein informatives Nachwort.

 

David Rousset
Das KZ-Universum
Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel Mit einem Nachwort von Jeremy Adler und Erläuterungen von Nicolas Bertrand
Suhrkamp / Jüdischer Verlag
2020 · 141 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-633-54302-1

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