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Kritik

Das Ende der Demokratie

Ece Temelkuran skizziert die sieben Schritte zur Diktatur
Hamburg

Erinnert sich noch jemand an die „besorgten Bürger“, der „Ängste“ man „ernst nehmen“ müsse, auf die man zugehen, mit denen man reden, die man verstehen sollte? Also – an die Zeit, bevor man in der Lage war, Pegida, Identitäre und AfD als das zu bezeichnen, was sie faktisch sind: als rechtsradikale und rassistische Feinde von Demokratie und Pluralismus. Heute sitzen diese Leute im Bundestag. In der zweiten Jahreshälfte besteht die reale Gefahr, dass sie in Ostdeutschland ganze Landesparlamente kapern. Die, die man bisweilen noch immer als „Populisten“ verniedlicht.

Die türkische Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran, die inzwischen im Exil lebt, plädiert dafür, all die Energie, die zum „Verstehen“ und zum ohnehin fruchtlosen Dialog mit den Radikalen draufgeht, stattdessen in den Dialog mit jenen zu investieren, die die demokratischen Werte verteidigen wollen. Weil der Dialog mit den Gegnern dieser Werte nicht zielführend ist. Im Gegenteil: Weil er immer wieder Gefahr läuft, in deren Fallen zu tappen, indem er permanent über die gezielt geworfenen Provokations-Stöckchen stolpert und am Ende nur dafür sorgt, das Radikale, den Hass, zu normalisieren.

Ece Temelkuran weiß, wovon sie schreibt in ihrem neuen Buch „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur“(Übersetzung: Michaela Grabinger). Sie hat erlebt, wie die AKP, die Partei von Recep Tayyip Erdogan, das Land Schritt für Schritt erobert hat. Wie diese Radikalen die Demokraten umschmeichelt haben, wie sie es sogar geschafft haben, sich international beliebt zu machen, sogar als positiver Gegenentwurf zu nahöstlichen Despoten zu gelten – der klassische Wolf im Schafspelz. Aber der Tenor von Temelkuran wird rasch klar: Wer es wissen wollte, der konnte es wissen. Vom ersten Tag an. Erdogan hat nie einen Hehl daraus gemacht, wohin er will. Jene, die heute behaupten, sie seien von seiner Kehrtwende (wahlweise 2010 oder 2013) überrascht gewesen, sind nicht ernstzunehmen.

Auf Lesungen wurde Temelkuran in den letzten Jahren oft gefragt: Wie können wir Ihnen helfen? Doch das sei die falsche Frage. Man müsse sie umdrehen. Denn Temelkuran hat bereits erlebt, wie ihr Land an die Radikalen gefallen ist, von denen auch in der Türkei lange niemand glaubte, sie würden wirklich die Demokratie abschaffen. Bis sie ihre Polizisten auf friedliche Demonstranten im Gezi Park hetzten und acht Menschen töteten, bis sie Hunderttausende in Gefängnisse warfen, nur weil sie in Opposition zur Regierung standen.

Temelkuran beobachtet heute Ähnliches, wenn sie die Politik von US-Präsident Trump und seinen Anhängern sieht, Orban in Ungarn, Marine LePen in Frankreich, die AfD in Deutschland. Und sie zeichnet sehr deutlich nach, dass die Abläufe in all diesen und noch weiteren Ländern frappierende Ähnlichkeiten aufweisen, als würden sie alle demselben Drehbuch folgen. Erst werden die Rechten nicht ernstgenommen; dann werden sie ausgelacht; dann versucht man, ihnen mit Fakten und Logik zu begegnen; man ist entsetzt ob ihrer Grenzüberschreitungen und wähnt sich doch im sicheren Schoß eines demokratischen Rechtsstaates – und das ist der große fatale Irrtum. Minutiös zeichnet sie nach, wie die Gewaltenteilung demontiert wird, wie Menschen geformt und radikalisiert werden, bis es zu spät ist.

Nun kann man einwenden, dass die türkischen Verhältnisse andere sind als die amerikanischen oder die deutschen, und das ist in Bezug auf Details sicher richtig. Aber sich in Sicherheit zu wähnen, ist dennoch falsch. Aktuell brechen weltweit demokratische Strukturen zusammen, Rechtsradikale sind im Aufwind. Temelkurans Buch ist eine Warnung. Eine minutiöse Beobachtung der Mechanismen, an denen das fragile Gebilde eines demokratisch-pluralistischen Konsens zerbricht. Es ist – jetzt schon – das wichtigste Sachbuch des Jahres 2019.  

 

Ece Temelkuran
Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur
Übersetzung: Michaela Grabinger
Hoffmann und Campe
2019 · 272 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-455-00532-5

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