Das Türkische Modell als gescheiterte Hegemonie?
Das Türkische Modell des islamischen Liberalismus unter der AKP-Regierung wurde viele Jahre lang weltweit bejubelt. Es wurde als Option für weitere Länder des Nahen Ostens gehandelt. Doch dann kam der Arabische Frühling...
Cihan Tugal, Professor für Sozialwissenschaften in Berkeley, widmet dem Scheitern des Türkischen Modells eine Untersuchung, in der er auch auf die Dynamiken und Wechselwirkungen mit Ägypten, Tunesien und Iran eingeht. Seine These: Der Arabische Frühling hat den aufkeimenden islamischen (Neo-)Liberalismus, der der Türkei einige Jahre lang Stabilität, Wohlstand und ein enormes Wirtschaftswachstum beschert hat, beendet. Diese These ist so gewagt wie interessant. „Wer die Türkei verstehen will, muss dieses Buch lesen“, schreibt der deutsche Verlag. Und soviel sei vorab gesagt: Das stimmt nur sehr bedingt.
Lange wurde die Türkei als Beispiel dafür hochgehalten, dass Islam, Demokratie und eine starke Wirtschaft durchaus kompatibel sind. Seit das Türkische Modell im Sommer 2013 im Zuge der Gezi-Revolte endgültig zusammenbrach, wird diese Auffassung gerne rückwirkend als Irrtum dargestellt. Dass diese Sicht schon immer oberflächlich und kaum tragfähig war, macht auch Tugal schon auf wenigen Seiten seines Buches klar – und fasst den Bogen weiter. Er untersucht die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und religiösen Aspekte in der Entwicklung der genannten Länder und setzt sie in einen Kontext zueinander, insbesondere bezüglich Ablauf und Folgen der Aufstände in Iran 2009, in Ägypten und Tunesien ab 2011 und in der Türkei 2013.
Eine damals auch von der AKP gewünschte und forcierte Übernahme des Türkischen Modells in Ägypten und Tunesien war aber, das wird rasch klar, nie wirklich möglich. Zu unterschiedlich waren dafür die Strukturen und Grundvoraussetzungen dieser Länder. Daran änderte auch der zeitweise enge Austausch der postrevolutionären Regime mit Ankara nichts. Die ägyptischen Muslimbrüder waren schon wieder weg vom Fenster bevor sie überhaupt hätten aktiv werden können. Aber es ist auch augenscheinlich, dass ein wesentliches Element des Türkischen Modells – der Säkularismus – für sie so nicht gangbar gewesen wäre.
Der Einblick und der Vergleich, den Tugal präsentiert, ist durchaus interessant. Er hilft, Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Er zeichnet den Nahen Osten als Reagenzglas, wobei ähnliche Zutaten in teils höchst unterschiedlichen Ländern zu entsprechend unterschiedlichen Ergebnissen führen, die viele Grundannahmen über die Region auf den Prüfstand stellen. Das ist Tugals eigentliche Leistung: Zu zeigen, wie der Arabische Frühling scheiterte und weshalb. Und er wirft dabei plausibel einige bislang als sicher geltende Interpretationen über Bord. Den Arabischen Frühling aber als hauptursächlich für das Scheitern des islamischen Liberalismus auszumachen, läuft fehl.
Das liegt nicht daran, dass Tugals Analyse falsch wäre, sondern an den Aspekten, die er ignoriert. Er versteift sich zu sehr auf die Perspektive des Sozialwissenschaftlers. Psychologische, massenpsychologische und kulturelle Dynamiken ignoriert er fast gänzlich. Die Entwicklung der Bildung und Bildungspolitik in den untersuchten Ländern bezieht er ausschließlich quantitativ ein, obwohl eine qualitative Betrachtung zielführender wäre und auch einige wesentliche Diskrepanzen zwischen dem türkischen und dem iranischen Beispiel erläutern helfen würde. Auch die nicht zu unterschätzende Rolle der Gülen-Bewegung bei der Etablierung und am Ende dem Scheitern des Türkischen Modells wird nur oberflächlich behandelt.
Tugals Buch ist daher lesenswert für all jene, die bereits ein gutes Verständnis der türkischen Politik und Gesellschaft sowie der historischen Fakten der letzten 150 Jahre haben – und dieses aus dem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel vertiefen wollen. Tugals Thesen liefern Denkanstöße, eröffnen neue Blickwinkel und bieten reichlich Reibungsfläche und Debattenstoff.
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