Eine Edit, die Räume schafft.
HannaHound hat keine Idee für die Leerstelle und sie heftet einen leeren Kommentar an die drei Punkte. Einen leeren Kommentar. Solche Moves sind hier nicht nur so möglich – im Raum geht nichts an ihnen vorbei. Das alles hier ist ein von Google verlassenes Google Doc.
Und am Anfang gelangen wir in den postphysischen, neodigitalen Raum. In Max Wallenhorsts Text – Titel: „Raum“ – geht es eigentlich nur noch um die vollzogene Akklimatisierung in einer mehr oder weniger komplett digitalisierten Welt und Wahrnehmung. Verfahrensweisen sind zu Klicks und Links geworden, Menschen tragen ihre Profile wie Muster auf der Kleidung. Die schiere Schönheit, die sich in den teilweise sehr innovativen, komplexen und doch irgendwie unzufriedenstellenden Formulierungen entzündet, lässt dem Text eine Atmosphäre zwischen Wellness-Tempel und "Schöne neue Welt" angedeihen. Bizarr wird es nicht, dafür fehlt ein bisschen der Boden unter den Füßen. Aber (trotz aller Freude beim Lesen), was mich betrifft: wäre ich die Hardware zu dieser Software von Text, ich würde den Nutzer in den Wahnsinn treiben, denn das Programm bliebe oft hängen.
Ganz egal, wie wunderbar du bist, wie viel Liebe du zu geben hast, wie reif oder weise oder erfolgreich oder klug oder verantwortungsvoll du bist, als Stiefelternteil bist du strukturell prädestiniert dafür, Hass und Unmut abzubekommen, und es gibt so gut wie nichts, was du dagegen tun kannst
Der Auszug aus Maggie Nelsons Buch „Die Argonauten“ (übersetzt von Jan Wilm), das im September bei Hanser erscheinen wird, lässt zunächst vermuten, dass der Fokus auf der stiefelterlichen Rolle der Erzählerin liegt. Sehr schnell zeigt sich aber, dass Inhalt und Struktur des Textes sehr mannigfaltig sind und oftmals werden sie sehr abrupt gewechselt. Denn es geht im Folgenden weniger um die Beziehung zu dem Kind, als um das Thema der queeren Identität, an das die Themen Familie und Elternsein zwar gekoppelt sind, doch sie werden nicht in den Vordergrund gestellt.
Eine der nervtötendsten Tatsachen an der ewigen Wiederholung des Refrains von der gleichgeschlechtlichen Ehe ist, dass ich nicht viele Queers kenne, für die das Hauptaugenmerk ihres Begehrens die Gleichgeschlechtlichkeit ist […] welche Form der Gleichheit auch immer ich in meinen Beziehungen zu anderen Frauen bemerkt habe: Es ist nicht die Gleichheit von Frauen und ganz bestimmt nicht die Gleichheit von Körperteilen. Sondern das geteilte, erdrückende Verständnis davon, in einem Patriachat zu leben.
Die Verfasserin nimmt uns mit in die Frage: was ist queer, inwiefern ist es eine Lebensart, inwiefern eine Position/Haltung für sich oder gegenüber dem Bestehenden? Und sie räumt nicht ohne Verve einige halbgare Vorstellungen und Ansätze beiseite, um zu den für sie wesentlichen Punkten vorzustoßen. Die einzelnen Geschichten und Ausführungen kommen etwas separiert daher, wie sauber gerahmte Ausschnitte, was dem Text etwas Zerfasertes gibt, aber auch etwas Dynamisches; man hat das Gefühl man bekommt mehr mit, weil sich der Text nicht zu einem Narrativ zwingt, sondern mit jeder neuen Einlassung ein übergreifendes Narrativ herausarbeitet, das irgendwo zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen angesiedelt ist (zumindest stelle ich mir die Bewegung des fertigen Buches so vor und im Auszug ist diese Bewegung zumindest angedeutet).
es graut mir vor dem wissen um die angst […] ich sehe die einsamkeit vor mir, und sie ist leicht
In seinem kurzen Nachwort/-ruf schreibt Rick Reuther u.a. von den legendären Gartenpartys, die bei Ianina Ilitcheva stattfanden. Ich war nicht immer dabei, hatte aber das Glück, an einigen dieser Veranstaltungen teilzunehmen. Wegen meiner Weizen- und Milchunverträglichkeit bin ich nicht unbedingt der leichteste Gast, was Ianina aber keine Sekunde schreckte: sie machte einfach einen Extrapizzaboden für mich.
Diese Anekdote reicht natürlich nicht aus um ihre wunderbare, bedingungslose Großherzigkeit – die man keinesfalls mit Naivität oder Gutmütigkeit verwechseln durfte – einzufangen; sowie das Dutzend anderer Charaktereigenschaften, das diese einmalige Person und Persönlichkeit ausmachte. Ich bin mir sicher: nichts, was ich schreiben könnte, würde dem gerecht werden.
Die Texte erzählen von ihrem ganz privaten Kampf. Hier setzt sich ein Ich bedingungslos mit der Leere, die man nicht ausfüllen, nicht bekämpfen, nicht verbannen, nicht verbrauchen oder stilllegen kann, auseinander. Die immer zu große Leere zwischen, vor und nach den Dingen, in denen das Ich die Fülle ist, die übersprudelt oder ausläuft, je nachdem, wie man es betrachtet. Ianina sprudelte und suchte, brodelte und funkelte mehr als viele andere Menschen, die ich kenne – und auch in den tagebuchartigen Einträgen hier liegt, trotz des leicht meditativen, sorgsamen Ausdruckscharakters, eine übergroße Hinwendung zum Lebendigen, zum Leben vor.
Die Sehnsucht in diesen Texten … sie hat so wenig mit Überhöhung oder überschwänglicher Transzendenz zu tun. Es ist eine Sehnsucht, die nicht einmal viel wünscht und doch alles. Die auf ihre leiseste Stimme zurückgeworfen wurde und doch beharrlich spricht und viel deutlicher ist als eine laute Stimme.
Ende 2016 erlag Ianina ihrer Krankheit. Unter einer ihrer visuellen Arbeiten steht der Satz:
Time didn’t matter, we knew the future would arrive some day.
Zwei Bilder darunter steht ein weiterer Satz, den ich der Zeit gern zugeflüstert hätte, gern zuflüstern würde (und ich habe dabei Ianinas Stimme im Ohr):
Please, baby, start slow.
Kann eine virtuelle Erfahrung eine tatsächliche aufwiegen? Sind Bilder und Videos von Regionen der Erde ein ebenwürdiger Ersatz für eine Reise dorthin? Ist das Internet eine Erfahrungsmaschine oder schlicht eine riesige Fassade?
Ich bin nicht sicher, ob der Text von Max Link die beste Form ist, das Thema zu verhandeln. Hier wird die Frage in eine knappe und etwas undurchsichtige Geschichte gepackt, die letztlich auf sich selbst hinausläuft, keinen wirklichen Ausbruch wagt.
Die Fragen, die ich mir heute stellen werde, haben alle mit Abwicklung zu tun.
Die Fragen, die ich mir heute stellen werde, haben alle mit Abwicklung zu tun und Verbrauch.
Glatte Flächen, die sich plötzlich als abschüssig erweisen und umgekehrt und doch bleibt alles meta-soft. In den Gedichten von Christiane Heidrich (Titel: Today I am functional) legen sich Aussagen auf Satzgefüge, heben sich aber sofort wieder ab; die Verschmelzung von Ausdruck und Satzstruktur wird verhindert durch ein dünne Schicht, die nicht mal irritierend ist, aber sie ist da, sie ist eine in die Sprache hineingetragene Restungenauigkeit; viele verdichtete Anbahnungen liegen verstreut herum – wie brauchbar sie sind, weiß niemand, schon beim Formulieren scheint dem lyrischen Ich ihr Nutzen abhanden zu kommen. Darin: Versuche von Nähe und Versuche von Ordnung. Die Sätze sind nicht abwegig, im Gegenteil, und dennoch strahlen sie nichts so sehr aus wie Abwegigkeit. Arbeitsprozesse, Ziele und Aufgaben tauchen hier auf als Fragmente einer Wirklichkeit, die sich nicht zusammensetzen lässt, Fragment als Ganzes noch. Und das in der Sprache an den Tag gelegte Verhalten wirkt wie eine Sondierung, die ins Leere läuft.
Ach, Clementine, sagt Caroline, wenn ich nicht beweisen müsste, dass ich tüchtig bin und irgendeinen Wert darstelle in dieser schreckerfüllten Welt, dann könnte ich meine Ohren wieder öffnen und würde hören, aber, Clementine, ich mag diese Welt nicht und weiß nicht, warum ich hier bin, darum bleibe ich taub und stumm.
Clementine und Caroline sind arbeitslos und leben in einer verschneiten Welt. Sie lesen in Büchern von einer Frau, die in der Kälte überlebt, die ein paar Samen hat und Jagen lernt. Clementines tote Großmutter sagt ihr: du musst lesen. Sie selbst wollte ihr Leben lang lesen, aber zuerst verbot es ihre Mutter, die auf die Bibel schwor, dann wollte ihr Mann, dass sie nur anständige Dinge las.
Erst nach einer Weile habe ich den Verdacht, dass Verena Stefans Text nicht einfach eine leicht krude Erzählung ist, nicht nur eine leicht dystopische, leicht märchenhaft-entrückte Geschichte um zwei arbeitslose Frauen. Draußen eine unwirtliche Welt, drinnen ein starker Zweifel, dass man mit sich irgendwo hinkommen kann – hier werden, auf sehr dezente und atmosphärische Weise, die Determinierungen und Klischees weiblicher Rollen & Lebensentwürfe angekratzt, thematisiert.
Es war lange kalt gewesen
Als wäre jemand gestorben
Man könne am Denken erkranken,
Hieß es plötzlich
Als es warm wurde
Fielen böse Blicke an der Bushaltestelle
In der ganzen Stadt wusste keiner warum
Die Gedichte von Lina Morawetz haben mir zunächst zu wenig Körper. Wenn ich versuche ihre ausgearbeitete Gestalt aufzurufen und nicht nur ihre Worte zu lesen, fühle ich mich zurückgepfiffen, wieder vor die Zeilen gestellt, welche als klare, feine Formen so etwas wie Unberührtheit einzufordern scheinen. Erst nach mehrmaligem Lesen fallen mir die allerkleinsten Facetten auf, die die Gedichten einkreisen, auf die sie abzielen. Trotzdem: der Zugang bleibt schwer, ich sehe die Texte wie hinter Plexiglas.
Wenn ihr mich für meinen Mangel an „Patriotismus“ und „Courage“ kritisieren wollt – geht zur Hölle! Ihr habt diese Zivilisation, diese Grenzen und diese Kriege erschaffen, und ich, ich kann euch und eure Kriege weder verstehen noch will ich es.
Der aus Litauen stammende Filmkritiker, Autor und Filmemacher Jonas Mekas berichtet in dem Auszug aus seinen Tagebüchern von seiner Flucht aus Litauen nach Deutschland und von der Zeit in einem deutschen Zwangsarbeitslager im Jahr 1944. Die vollständigen Tagebücher von 1944-1955 erscheinen demnächst bei Spector Books, übersetzt von Heike Geißler. Ein wichtiges Zeitdokument, zweifelsohne.
Interessante Einblicke zu dem vieldiskutierten Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon gibt der Übersetzer Tobias Haberkorn bei einem Interview mit Birte Mühlhoff.
Antietam. das flattern der flaggen
im wind. vierundzwanzig stunden voller leid. und tod.
eine landschaft färbt sich rot an einem fluss. leichen
in den feldern. leichen auf den fotos. in schwarzweiß.
Am Ende werden die (Wild) West-Mythen aufs Korn genommen. Allerdings versteh ich nicht ganz, worauf Levin Westermann in seinen Gedichten voll schießender Männer und Albträume und leerer Naturstätten abzielt. Amerika unter Trump – ein neuer Albtraum? Ein Albtraum wie einst der Bürgerkrieg und die Auslöschung der Ureinwohner durch die Westbewegung, was wir beides in Filmen und anderen Medien als Epos und Mythos verklären? Goodnight America, goodnight western civilization und nur so ein kurzer, runtergeschraubter Nachruf? Ich bleibe etwas ratlos zurück.
Fazit: Und wieder eine Edit, die mich bewegt und inspiriert hat und zu neuen Lektüren verführen wird. Die Diversität dieser Zeitschrift hört nicht auf mich zu verblüffen. Es gab zwar wieder ein-zwei Texte, bei denen ich mir gedachte habe: klar das ist hypebar, aber steckt da auch mehr drin? - und ich bin mir nicht sicher. Da aber gerade Edit die Zeitschrift ist, die stets auch mit Texten aufwarten kann, in denen es definitiv um „mehr“ geht, kann man diese Frage auch getrost beiseiteschieben (zumal ich ja auch nicht zu jeder Art von Literatur einen Draht habe). Diese Nr. 72 zeigt mal wieder: Edit steht (was mich betrifft) nicht nur für hervorragende Literatur, sondern für Texte, in denen wichtige zeitgenössische Aspekte thematisiert und andere wichtige Aspekte, die ihren Schatten bis heute werfen, aufgearbeitet werden. Das ist eine Eigenschaft, die mich, neben der literarischen Qualität, immer wieder zu dieser Zeitschrift ziehen wird.
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