edit 69
Ich neige dazu, schnell befremdet zu sein von Texten, die sich ihre ganz eigene innere Haptik konstruieren. Im Fall von „Unser großes Album elektrischer Tage“ von Johanna Maxl – der ein solch weltfremd wirkender Text ist – bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn durchblicke und ob er sich durchblicken lässt. An manchen Stellen hat man den Eindruck, dass die Geschichte ihre Motive einfach an einen Fahnenmast gehängt hat, und jetzt flattern sie halt, verhüllen und enthüllen sich immer wieder; breiten sich aus und fallen wieder zusammen. Es geht um das 21. Jahrhundert und um eine schräge Mutter, für die ihre Kinder wunderame Erscheinungen sind, derweil ihr Bezug zu ihnen verschwindend gering ist. Und obwohl die Anwesenheit der Mutter die größte Rolle im Text spielt, hatte ich immer das Gefühl, es geht eigentlich um Flucht: vor sich selbst, den Kindern, dem Alter, den Aufgaben, den Erwartungen, etc. Der Text ist sprunghaft und ich verheddere mich ein ums andere Mal in seinem Springseil.
Wie viele Dus warst du?
Wie viele,
in dir aufgereiht,
jedes tötete das vorherige?Wie oft hast du dich
dich ändern sehen,
die Zweiteilung gefühlt?
Leicht entrückt liest man in der Lyrik vom Kate Tempest – sie wirkt zaghaft, ist aber eigentlich mit der Durchschlagskraft des Epischen beseelt. Sie zäumt keine verführerische Ambivalenz, kein Entweder-Oder auf, sondern befindet sich auf direktem Konfrontationskurs. Die Direktheit darin ist nicht grob, sie ist fast sachlich, aber beschwört in ihrem Auftreten gleichzeitig eine neue Transzendenz. Und erzählt von der Beschwerlichkeit des Lebens als ungewollt angetretene Reise, unter dem Zeichen der Geschlechterdifferenzen.
Sprachlich fallen mir an Kristina Schilkes Kurzprosastück „Schutzhütte“ vor allem die hier und da auftretenden Manierismen ins Auge; kurze Aperçus, die dem Text zwar eine poetische Note geben, aber mit einer Regelmäßigkeit auftreten, die unnatürlich wirkt. Inhaltlich bietet der Text eine gelungene, sich anschleichende Steigerung – Spannung, könnte man sogar fast sagen. Die ganze Geschichte droht einem nah zu gehen. Das nichtssagende Ende jedoch, das viel zu schnell auf die Überhöhungsspur flitzt – ein Ende mit dem Motto: „der Leser wird sich dabei schon was denken können“ – es lässt mich umblättern, ohne weitere Gedanken an den Text zu verschwenden.
Das römische Reich gruppierte sich um das Mittelmeer, jedes einzelne menschliche Leben hat Mittelpunkte, jeder Mensch besteht zu einem Großteil aus Wasser, ohne Wasser wäre Leben unmöglich, die Farbe des Wassers ist die Farbe des Himmels (und die Farbe der Sehnsucht, vielleicht?). In Ulrike Almut Sandigs Text geht es um Geburt und um Meere, um die Mittelpunkte unserer Erfahrung und ihre Randbereiche, um Persönliches und Historisches, Abstraktes und Aktuelles. Sanft gelingen ihr die Übergänge, vom OP-Saal zur Ostsee, weiter zu Homer und weiter, immer weiter, Kreise ziehend, in deren Mittelpunkt der Herzschlag ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer eigenen Existenz schlägt, die sie kurz ganz dicht an den Leser heranhält.
Parodie, Satire, Posse – sie haben den Vorteil, dass man sie meist nicht so ernst nimmt, aber Warnungen und Überlegungen gedeihen in ihren Überspitzungen dennoch recht gut. Was man ernst meint, sagt man am Besten im Scherze (#wilhelmbusch). Diese ganze Idee ließe sich auch auf Ann Cottens Fast-Ballade „Als die Kritiker lyrischer wurden“ übertragen – wobei unklar bleibt, ob es um Inszenierung oder Haltung geht. Das ist das Vorrecht der Kunst. Sie muss nicht eindeutig sein und darf sich darbieten, ohne eine Rolle übernehmen zu müssen, darf behaupten und durchspielen, wie sie lustig ist. Was mich aber an diesem speziellen Text stört: Er ist irgendwie halbgar, irgendwie frustrierend. Ein Essay zum Thema Lyrik und Kritik, eine tiradische Elegie gegen die Überschwemmung mit dürftigen Gedichten, ein Haufen Haikus mit lyrischen Kritikerstilblüten (ich liefere gerne meinen Anteil), eine Ode auf den manierlichen Dilettanten in der Disziplin des freien Verses: das alles wäre erhellender gewesen als das hier und da erheiternde, mit Fiction-Futur und Allegorie schäkernde Drauflosfolgern in Cottens zwei Gedichten – die sie „Versuche“ nennt, als würde das irgendwas erklären. Wenn es in den Texten (auch) um eine Warnung gehen soll, dann ist diese im Vortragscharakter des Textes verklausuliert worden und verschwunden. Als Studie zur lyrischen Sprache finde ich die Text zu kurz; es stecken intelligente Seitenhiebe und Ideen in jedem zweiten Satz, aber am Ende ist, zumindest für mich, zu wenig passiert, zu wenig wurde riskiert.
keiner weiß mehr als es gibt!
Gerhard Falkners Gedicht „Das Wort“ ist mir zu getragen, aber klanglich schön arrangiert, geradezu entgegenkommend, bis zum Ende der ersten Seite: „Hitler“! Das soll das Wort sein?
Dies ist das Wort, das den Mann
der es hört, im Ohr, das es gibt
wie ein Schlag trifft, das Wort nennt
die Namen, schindet die Völker
erbeutet die Figuren
an den Reben erfrieren die Rieslinge
Ich weiß nicht, wie es anderen geht: ich finde diese Beschreibung verklärt viel mehr, als dass sie bedenkt. Ich gehöre nun auch zu der Generation, die Hitler als eine Art Kitschobjekt, einen Götzen sämtlicher History-Channels und Zeitungsbeilagen kennt, was noch einmal problematischer ist. Aber das hier kann nicht die Antwort darauf sein. Und der Rest des Textes ist dann auch noch eine einzige, belanglos wirkende Melodramatik, mit Passagen wie:
für den Fall eines Falles
sollen die eisigen Felle des Schnees
eines Tages doch fallen auf die
blutigen Flanken der Lämmer
ich gehe die zoombaren Straßen
von Google Maps
ins Auswärts
Biblisches mit hippen Kadenzen, auf der Suche, aber irgendwie auch mit dem Versuch behaftet, durch Sprache irgendetwas zu beherrschen – das Gedicht zerfleddert sich selbst. Allerdings: es gelingt ihm, mir zu zeigen, wie stark die Erwähnung dieses einen Wortes sofort Kreise zieht – wie sehr mir der Hitlerhammer missfällt. Ich denke zuerst, das hat mit meiner Aufgeklärtheit zu tun, aber vielleicht ist in meiner Reaktion ja doch eine Abwehrbewegung enthalten, die wegwerfende Hand, die sagt: das geht mich nichts an. Soll mich das Gedicht daran erinnern, dass es mich was angeht? Aber ob diese Idee es rechtfertigt, ein Gedicht zu schreiben, so getragen und in die Länge gezogen? Dann doch bitte nur die erste Seite bis Hitler. Das wäre ein besseres Gedicht.
Philipp Schönthalers minuziöse Schilderungskunst nötigt mir Respekt ab. Und auch ansonsten ist seine zoomversessene, filmisch inszenierte Erzählung um eine höchstmodern eingerichtete Stadtzone sehr gelungen; beharrlich werden eine Vertragsverhandlung im 54. Stock und der Verlauf einer Demonstration aufeinander zu bewegt, ineinandergeschoben. Man kommt sich vor wie ein hautnaher Beobachter beider Umgebungen. Unterschwellig vermittelt der Text außerdem: alles ist so vorhersehbar; die Mechanismen der Gesellschaft und ihrer Strukturen, sind kaum anders als die von Apps, die Daten darüber sammeln oder die der neusten Innovationen in Komfort, Design und Technik. Während das Auge des Erzählers für uns die Abläufe einfängt, werden wir gewahr, wie alles ineinandergreift und selbst das Unvorhersehbare sich einfügt in einen wenig überraschenden Gang der Dinge.
Beim Gewinnertext des Edit Essay Preises 2016, „Polyamory [FAQ]*“ von Max Wallenhorst, muss ich stark unterscheiden zwischen meinem persönlichen Geschmacksfazit und der objektiv registrierten Fülle an aufgeworfenen Fragen und intelligenten Einschnitten, die der Text mit sich führt. Ich mag diesen Text nicht. Ich finde ihn über-unkoordiniert, stellenweise langweilig und ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich allzu sehr darin gefällt, die Wirrheit des Themas noch zu steigern, statt klarer hervortreten zu lassen, was man davon halten kann. Das macht bestimmt Spaß, während man dran schreibt, aber als Leser fühl ich mich ein kleines bisschen verarscht. Nach mehrmaliger Lektüre bin ich mir aber sicher, darin einem wichtigen und intelligent geführten Diskurs beigewohnt zu haben, der sich auf viele Gebiete erstreckt, die es wert wären, dass man sie einmal auf der Landkarte seines Bewusstsein einzeichnet.
Der zweite Platz, den Pascal Richmann mit seinem Essay „Rauch der Welt“ erklommen hat, ist für mich ebenso eine Überraschung wie Platz 1. Es ist ja ganz unterhaltsam, wen es in einem Essay um manches und gleichzeitig um nichts geht, aber … braucht es nicht zumindest einen springenden Punkt? Ich sage „manches“ und nicht „alles“, wie es die Jury in die Begründung schreibt. Obwohl: „alles“ drückt vielleicht die dem Text innewohnende Beliebigkeit besser aus. Ich hätte gern, dass jemand diesen Text liest, aufmerksam, ihn dann weglegt und mir sagt, worum es geht. Aber muss es um etwas gehen, braucht der Essay eine Linie? Die Vorbehalte mal beiseite: Viele kurze Szenen in diesem Text gelingen, sie bergen Schönes, Heftiges und Interessantes, viele Stellen weisen diesen Text auch als Essay aus – aber dennoch wird nicht einfach ein Essay draus, nur weil man es will, nur weil Anzeichen gegeben sind. Denn: der Text ist kein Versuch. Jeder Abschnitt wirkt, als sei er genau an seinem Platz, kein Risiko ist im Spiel, keine scharfe Kurve, alles zu glatt. Der Kern des Essays, der nicht die Abschweifung, sondern der Versuch ist, das Haltlose, also das, was Max Wallenhorsts Text in gewissem Sinne verinnerlicht hat, es fehlt hier oder springt mir zumindest nicht ins Auge.
Ich glaube gerne an Biochemie.
In Isabelle Lehns drittplatziertem Text „Frühlingserwachen“ geht es um Depression. Das ist auch eigentlich schon alles. Anfangs geht es ein bisschen mehr um Sex, dann etwas mehr um den Versuch, schwanger zu werden und schließlich auch um das Altern. Vorwiegend also: schwierige Körperlichkeit, psychisch und physisch; schwieriges Ich, auch darum geht es. Es ist, man sollte das nicht verneinen, sehr legitim, über Verzweiflung zu schreiben, und der Texte verlagert sein Gewicht klug von einem Standbein aufs andere, switcht zwischen Voyeur-Späßen und dichteren Zuspitzungen, zwischen Poesie und Praxis hin und her. Vieles, das lächerlich anmutet, wird erzählt, und es ist diese Häufung des Lächerlichen, die den Schmerz aufmalt, die tiefe Überspannung der Nerven, die Ruhe im Sturm, den man noch nicht wahrnehmen will. Ich weiß nicht, ob dieser Text ein Essay ist, und überzeugt hat er mich auch nicht. Aber die Art der Entblößung, die darin vollzogen wird, ist bemerkenswert und kreist während des Lesens in der Vorstellung wie ein Hai in der eigenen Badewanne.
Die edit endet mit dem Ausschnitt eines Berlin-Journals von Jan Brandt. Nicht uninteressant, vor allem die Abschnitte über das Schreiben an „Tod in Turin“ oder ein Gespräch mit Jan Wagner. Aber es ist doch allzu viel Belangloses dabei, mein Erwartungsüberschuss war schnell aufgebraucht. Vielleicht etwas für Leute, die in Berlin leben und gern lesen. Da wird es ja noch einige geben, denen wäre es vielleicht sogar zu empfehlen. Oder vielleicht auch gerade nicht. Oder wollte mir Jan Brandt einfach nur zeigen, wie unspektakulär und gewöhnlich der Alltag eines Schriftstellers ist? Hat er. Ich weiß nicht, ob ich ihm dafür dankbar bin – aber will man einem Schriftsteller dankbar sein, nachdem man ihn gelesen hat? Ist das das Ziel, das er anzustreben hat?
Fazit: edit machte Spaß. Ich habe mich bei kaum einer Literaturzeitschrift so wenig gelangweilt. Was die Essay-Preise angeht: Ich bin nicht überzeugt, aber wer weiß was noch zur Auswahl stand und ob das Wenige, das ich zu sehen glaube, nicht ein Sehr-viel für andere ist. Ansonsten versammelt Edit (neben unbekannteren Autor_innen) einige große Namen, und das gewährt, so anscheinden die Hoffnung, eine gewisse Qualität. Unbestritten: Die Diversität und die Eigenständigkeit der einzelnen Beiträge macht die Zeitschrift lesenswert. Jeder Text bietet etwas ganz anderes an. Davor allein schon: Hut ab. Gerne wieder.
Anmerkung der Redaktion: Autor_innen der Ausgabe: Johanna Maxl: Unser großes Album elektrischer Tage | Kate Tempest: Hold Your Own. Gedichte | Kristina Schilke: Schutzhütte | Ulrike Almut Sandig: Seestück | Ann Cotten: Als die Kritiker lyrischer wurden | Ballade mit Vorübung | Maruan Paschen: Ohne Titel | Gerhard Falkner: Das Wort | Philipp Schönthaler: Orchid Yards | Edit Essay Preis 2016: Hannes Becker: Der Essay handelt von der Realität | Max Wallenhorst: Polyamory [FAQ]* | Pascal Richmann: Rauch der Welt | Isabelle Lehn: Frühlingserwachen | Jan Brandt: Das Bestiarium der Hauptstadt. Aus dem Berliner Journal 2014 | Fotografien: Andrzej Steinbach | Zeichnungen: Claus Georg Stabe
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