WIDER DAS AUFPOLSTERN oder Moos von Bergen, die Menschen riechen, von Rehen in der Grube kopiert aufs moondisplay
Der amerikanische Essayist Eliot Weinberger setzte sich ursprünglich in einen Zeitschriftenessay mit neunzehn europäischen Übersetzungen eines kurzen Gedichts des Dichter der Táng-Zeit Wáng Wéi in Englisch, Französisch und Spanisch auseinander, sehr kritisch und sehr ironisch. Das Nachwort von Octavio Paz stellt dessen eigene spanische Version vor. Sein Lob Ezra Pounds klingt in meinen Ohren schrill:
Wir alle, die wir seither chinesische und japanische Poesie übersetzt haben, sind nicht nur seine Schüler, sondern auch seine Schuldner. […] Ausgehend von den Bildern / Ideogrammen der Originale schrieb er englische Gedichte in freien Versen. (S. 55)
In der Lyrik können alle Seinsdinge Ausgang des lyrischen Prozesses sein (sagt nicht nur Jan Wagner), auch Übersetzungen aus dem Chinesischen oder die vermeintliche Bildlichkeit chinesischer Schriftzeichen, aber von philologisch akzeptablen Translationen kann dann nicht gesprochen werden. Pounds Wiedergaben der Lieder des 詩經 Shījīng sind Paraphrasen der englischen Vorlagen, wenn auch Ezra Pound durchaus wagemutig die meist übergangenen Reduplikationen der chinesischen Originale wiederzugeben verstand, so z. B. sehr schön und einfallsreich das Zirpen der
Grashüpfer 喓喓 yāoyāo mit chirruppy-churrp.1
Höre ich den Namen Ezra Pound, erklingen aber untergründig leider sofort auch seine antisemitischen Tiraden, die er im faschistischen italienischen Radio in den Äther posaunte, während die Krematorien in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern betrieben wurden. Nein, diese Gestalt ist sicher kein ehrbares Vorbild für Übersetzungen aus irgendeiner Sprache. (Dass man ihn in einen Eisenkäfig sperrte, ist eine andere Frage.)
Der ursprüngliche Text ist von Eliot Weinberger um zwei Nachträge erweitert worden, deren längerer erster weitere Übersetzungen, auch einige ältere deutsche, z. B. Günter Eichs Fassung, bringt, der zweite, kurze Nachtrag beschäftigt sich selbstreferentiell mit einer Reaktion auf die Erstpublikation in der Zeitschrift.
Auf den letzten Abschnitt „Neue deutsche Nachdichtungen“ hätten die Herausgeber besser nahezu vollständig verzichten sollen, sie stammen mit zwei Ausnahmen von des Chinesischen nicht mächtigen Autoren, deren Verballhornungen zum Lachen wären, zeugten sie nicht von einem nicht zu überbietenden Mangel an Respekt gegenüber der chinesischen Sprache und Kultur und im Besonderen gegenüber dem kleinen Gedicht des 王维 Wáng Wéi; * 699 oder 701; † 759 oder 761, das in zwanzig Wörtern einen Topos der Táng–zeitlichen Dichtung aufruft, von dem offenbar auch Eliot Weinberger nichts vernahm: Das Motiv des unauffindbaren Einsiedlers, der anwesend abwesend ist. Goatkoei Lang-Tan verfasste dazu bereits 1985 eine 335 Seiten umfassende Arbeit, die aber den Nicht–Sinologen und wohl auch der einzigen Sinologin, Sarah Wipauer, unbekannt gewesen sein dürften.2
Ich zitiere die einzige neue, annehmbare deutsche Fassung in dem Nachtrag (S. 104), damit deutlich wird, wovon die Rede ist:
Leere Berge, niemand zu sehen,
nur jemandes Stimme ist da, wie ein Widerhall;
spätes Licht dringt in den tiefen Wald,
ein Widerschein auf grünem Moos.
Ilma Rakusa ist als einzige nahe am Original geblieben. Wie selbst in der Wikipedia nachzulesen ist, war Wáng Wéi stark von dem Chán-Buddhismus geprägt, einer chinesischen Form des Buddhismus aus Elementen des kontemplativen Daoismus und des Mahayana-Buddhismus entstanden (sinojapanisch als Zen übernommen und in Japan weiterentwickelt). Ein wichtiger Zug des Chán ist, dass man Erleuchtung nicht als Folge eines intellektuellen Prozesses einschließlich der Rezeption von Sutrās erreichen kann, sondern in einem plötzlichen, unerwarteten geistigen Ereignis, das man auf viele Arten anstreben kann. Die Buddha–Natur 佛性 fóxìng befindet sich wie 道 dào, die geistig nicht fassbare Urkraft der Daoisten, in allem Seienden, Erleuchtung bedeutet, die Buddha-Natur in sich zu erkennen. In dem Gedicht entspricht die hörbare Stimme des Einsiedlers, der zunächst nicht fassbaren Buddha–Natur, die da ist, aber erst unter Anstrengung erkannt werden muss, um eine wahre, von Täuschungen freie Sicht des Seins zu erlangen. Das Abendlicht auf dem Moos ist (Vor-) Zeichen der Erleuchtung oder ein Bild der Erleuchtung selbst.
Eliot Weinberger formuliert eine Definition von Übersetzung, die sich jeder Übersetzer neben den Schirm legen sollte:
Übersetzung – eine Art spiritueller Übung – hängt von der Auflösung des Übersetzer-Egos ab: eine unbedingte Demut vor dem Text. Eine schlechte Übersetzung ist die aufdringliche Stimme des Übersetzers – das heißt, wenn man keinen Dichter sieht und nur den Übersetzer sprechen hört. (S.26)
Bei Wáng Wéi lodert kein Licht, wie Hans Jürgen Balmes (zu)spät-expressionistisch die letzte Zeile aufpolstert (S.97), und wie sich Widerschein in frischem Moss verheddert, sollte mir Daniel Bayerstorfer einmal erklären, wenn Licht doch einen Meter in 1 / 299 792 458 Sekunden zurücklegt, selbst auf dem Weg zu jenem fernen Exoplaneten belebt von zahlreichen Exodichterinnen und Exodichtern wird es sich wohl kaum verheddern, hoffe ich zumindest. Es ist einfach ein krudes Bild und ein falsches Verb.
Vielleicht dachte Ulrike Draesner aber auch an Häschen in der Grube, mir klingt da etwas aus der Kindheit herauf, als sie tatsächlich den Ortsnamen (erklärt von Eliot Weinberger) mit Reh in der Grube wiedergab (S. 99). Lassen wir das Reh (vielleicht auch mit seinem Kitzlein) in der Grube, die vielen weiteren Worte Ulrike Draesners haben gar nichts mit Wáng Wéis Gedicht und nichts mit chinesischer Kultur der Táng-Zeit oder gar Buddhismus zu tun. Sie hat Eliot Weinbergers Text nicht gelesen, jedenfalls ist von Demut nichts zu spüren, sondern nur von einer vollkommen missratenen Assoziativkette. Ein wenig mehr Respekt vor einer alten Kultur bitte: Als das Gedicht entstand, dauerte es noch ein halbes Jahrtausend, bis Walter von der Vogelweide unter der Linden die Lippen zu schürzen begann, um seine Lieder anzustimmen.
Michael Krüger mag es, wenn Tau im Moos glitzert (S. 101), es ist ja auch ein schöner Anblick, nur steht da nichts von Tau, und sicher wird es den klugen Autor nicht verwundern, dass es im Chinesischen ein Zeichen, und zwar ein sehr schönes, für „Tau“ gibt: 露 lù, oben der Regen 雨 yǔ, Regentropfen aus einer Wolke, und unten 路 lù, der Weg, früher sprach man in teutschen Sinologenkreisen von Deuter (oben: Niederschlag) und Lauter (unten: lù). Also ein schönes, ein bildkräftiges Zeichen und, glauben Sie mir, Michael Krüger, ein chinesischer Dichter vom Rang Wáng Wéis sah das Zeichen genau so: als Bild, und wenn er hätte „Tau“ sagen wollen, hätte er dieses Zeichen gewählt. Es kommt übrigens oft in sogenannten Naturgedichten der Táng-Zeit vor, aber leider nicht in vorliegendem. Wissen Sie, Herr Krüger, der angebliche Misanthrop Arthur Schoppenhauer war vielleicht ein freier Radikaler mit seiner Aussage: »Gedichte kann man nicht übersetzen, sondern bloß umdichten; welches allezeit mißlich ist«. Der glitzernde Tau ist aber wirklich (zu)spät-romantisch und sehr, sehr misslich.
Dong Li kennt offenbar seine eigene Kultur nicht gut: Keine Menschen sind auf dem Berg, also das stimmt schon einmal gar nicht, auf allen chinesischen (leider auch auf tibetischen und uigurischen Bergen), mindestens den schönen, bekannten, befindet sich immer eine Unmenge Menschen, die den Berg mit Apfel- und Orangenschalen etc. zu erhöhen trachten, ich habe es oft genug selbst erlebt. Ich habe es erklärt, Einsiedler kommen meist in der Einzahl vor, das haben sie sogar bei uns seit dem Simplizissimus so an sich, der Plural passt nicht, Herr Dong Li. Und Hirschheim, das hätte man Ihnen sagen müssen oder besser, das hätte doch Ihre Übersetzerin wissen müssen, klingt verteufelt nach Altersheim, oh, … ‚‘tschuldigung, o. K., korrekt: Senioren- und Seniorinnenheim.
Ilma Rakusa muss eine chinesische Großmutter (oder einen chinesischen Großvater) haben: Es ist chinesisch empfunden, was sie schreibt. Nein, in der Wikipedia steht’s: Ihre Mutter ist Ungarin und die Ungarn kommen ja ursprünglich weit, weit aus dem Osten, fast aus dem Grenzland zu China hin. Ethnische Überlegungen beiseite: Ilma Rakusa zeigt die von Eliot Weinberger geforderte Demut. Dank des Sinologen dafür.
Zu Hans Thill (S. 105) fällt mir nichts ein, ihm scheint auch nichts eingefallen zu sein und so schreibt er Sanskrit im Wald oder so ähnlich. Es staubt noch aus der Polsterei.
Sarah Wipauer tut sich noch (???) schwer mit der Übersetzung von klassischen chinesischen Gedichten ins Deutsche und sagt es uns sogar selbst, ich hätte es sonst vermutlich gar nicht bemerkt. (S. 106). Wirklich rührend ehrlich. (Fast kann ich nichts Kritisches mehr schreiben!) Die chinesischen (und leider auch die tibetischen und uigurischen: sie wollen wir nicht vergessen!!!) Berge sehen keine Menschen / aber sie riechen Menschen. Aber nein! Ich habe mir diesen Teilsatz nicht erfunden. Nein, ehrlich nicht: Es steht so da. Ein ernst gemeinter Rat Sarah Wipauer: Verfolgen Sie ihre weitere Karriere doch lieber mit ihrem tollen Mooskopierer: Das ist doch eine unglaubliche Innovation, die es nicht einmal auf den erwähnten Exoplaneten geben dürfte. Und bei diesen unerträglich heißen Sommern ist es eine wunderbare Lösung: kopiere das Moos. Wie wäre es mit dem Laubmoos Dicranum viride, es steht schon auf der Roten Liste der bedrohten Moose Hessen. Die gibt’s (als lesenswerte PDF) wirklich und zwar hier: 3
Bei Uljana Wolf (S.107) findet der Rezensent etwas Wunderbares: Sie schreibt 1mal, nein nicht langweilig teutsch einmal, nein 1mal. Unglaublich, welcher Wagemut, Avantgarde! Diese linguistische Großtat, erstmalig und 1malig in der deutschen Lyrik, reißt mich vom Rezensentenhocker und winkt licht tief in meinen alten Kopf. Und was ist denn das, es blinkt grüner zurück [m]ein moosdisplay. Lyrik vom Exoplaneten oder Mystik des 21. Jahrhunderts? Ich weiß es nicht.
Ein Wort zur Herausgeberin der „Neuen deutschen Nachdichtungen“ (S. 97-107). Hat eine Herausgeberin nicht auch die Aufgabe, junge Autorinnen und bisweilen auch alte Hasen vor sich selbst zu schützen? Wenn es so ist, hat Frau Beatrice Faßbender darin versagt, so gut ihre Arbeit als Übersetzerin des Essays auch ist. Vielleicht sollte sie 1mal den erfahrenen Herrn Krüger fragen. Wer käme auf die Idee einen englischen, italienischen oder französischen Artikel im Stil des von Eliot Weinberger veröffentlichten ohne Mitarbeit eines Anglisten, [–in] respektive Romanisten,[ –in] zu veröffentlichen? Meines Wissens wird an einundzwanzig (schauen Sie 1mal, Frau Wolf: 1undzwanzig) deutschen Universitäten Sinologie gelehrt und da sollte es nicht möglich sein, sich fachfraulichen Rat einzuholen? Aber China ist weit, sehr weit weg, und da kann Exotismus (oder sollte man lieber von Ignoranz sprechen) fröhliche Urständ feiern, dass die moondisplays nur so grün zurückblinken und die Rehlein in der Grube hüpfen, wenn der kalte Tau lodert, … äh, glitzert.
Warum ich so sarkastisch schreibe? Naja, ich habe die Seiten 11 bis 51 mit großem Vergnügen und noch mehr Lerngewinn gelesen, der Rest ist Aufpolsterung (eine Übersetzung aufpolstern: nachahmlich: Eliot Weinberger!), aber für die gute erste Hälfte lohnt es sich, das Bändchen in seine Bibliothek einzureihen. Bitte mehr von Eliot Weinberger, so frech, ja unverschämt, dass der kleine Professor mit der Miene einer Maus (S. 93) schäumt, aber lassen Sie bitte die Aufpolsterei aus dem Spiel oder fragen Sie demnächst Fachfrauen in der Universität Ihres Vertrauens, dann vermeiden Sie sarkastische Nebenwirkungen.
- 1. : Ezra Pound: The Classic Anthology Defined by Confucius. Cambridge (MA) 1955, S. 823. Rainald Simon: Shijing. Das altchinesische Buch der Lieder. Chinesisch / Deutsch, Stuttgart 2015, S. 823
- 2. Goatkoei Lang-Tan: Der unauffindbare Einsiedler. Eine Untersuchung zu einem Topos der Tang–Lyrik /618-906), Heidelberg 1985 (Heidelberger Schriften zur Ostasienkunde 7)
- 3. https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&source=hp&ei=HI6sXdGdJd...
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