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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Entzückensmeere mit Eisberg

Über Elizabeth Bishops Poesie des Ortes und des Reisens
Hamburg

Es gibt keinen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund, warum die amerikanischen Dichterinnen des ›modernistischen‹ 20. Jahrhunderts – allen voran: Amy Lowell, Muriel Rukeyser, Denise Levertov, Amy Clampitt und natürlich Elisabeth Bishop und ihre Mentorin Marianne Moore – in der deutschen Rezeption nach wie vor im Schatten ihrer weitaus bekannteren Kollegen wie William Carlos Williams, Wallace Stevens oder John Ashbery stehen. Denn gerade die Dichtungen von Elizabeth Bishop lassen sich ansprechender und eingänglicher kaum denken: witzig, raffiniert, doppelbödig, elegant mit den Traditionen und Formen spielend. Eine neue Übersetzung durch Steffen Popp hat kürzlich einen Schritt in die richtige Richtung getan.

An einem nicht näher datierten Herbstnachmittag kann sich Elizabeth Bishop nur mühsam auf ihre Lektüre konzentrieren. Sie erklärt: »Meine eigenen Gedanken, im Widerstreit mit denen aus dem Buch, machten einen solchen Wörtertrubel, daß ich nichts hörte und nichts sah.« Plötzlich rötet sich die Buchseite im Sonnenuntergangslicht, das durch die hohen Doppelfenster in ihrem Rücken einfällt, und Bishop hört, noch ehe sie aufblickt, eine Vielzahl unbestimmbarer Geräusche und erkennt, dass sie sie schon die ganze Zeit über unbewusst wahrgenommen hatte: »Geräusche hoch oben der Luft, rhythmisch leicht irregulär, vergleichbar mit dem Rückstrom unzähliger, kleiner Wellen, der Wellen eines Sees, die auf Sand rascheln.« Es ist ein Schwarm Zugvögel, der nach Süden fliegt. Diese kurze Episode, notiert von der damals Zweiundzwanzigjährigen fürs Vassar Journal of Undergraduate Studies von 1933, führt überraschenderweise direkt ins Zentrum ihrer späteren Dichtung. Bishop reflektiviert in dem Essay, den diese Episode einleitet, zwar über die Romane von Dorothy Richardson und Gertrude Stein, doch zeigen sich bereits hier alle Motive, die ihre spätere Lyrik dann unverwechselbar machen sollten: Aus der präzisen Beobachtung und Beschreibung der kleinsten Nuancen des Vogelzugs ergibt sich für Bishop ein größeres Gesamtmuster, in dem der gewöhnliche Zeitablauf aufgehoben wird und Bewegung, Stillstand und Unendlichkeit zu einer subjektiven Zeit zusammenfallen.

Im Spannungsfeld von Statik und Bewegung befindet sich aber im Grunde das gesamte lyrische Werk Elizabeth Bishops, bestehend aus vier schmalen Bänden zu Lebzeiten, insgesamt bloß etwas mehr als einhundert Gedichte, und einer vergleichbaren, aus dem Nachlaß herausgegebenen Anzahl. Sie sind großenteils der Poesie des Ortes ebenso verpflichtet wie der Poesie des Unterwegsseins. Programmatisch lauten die Titel ihrer Bücher unter anderem: »Nord & Süd«, »Reisefragen« und »Geografie III«. Die Geographie ihrer Gedichte ist eine Vermessung und Kartographierung formaler Möglichkeiten der Lyrik und eine Auslotung von Nähe & Ferne. Ja fast scheint es, die Gedichte wären selbst unterwegs, auf der Suche nach einer individuellen Form, die ganz dem jeweiligen Thema, Gegenstand oder Ort angepaßt ist. Bishops Dichtung läßt sich deswegen kaum zufriedenstellend einer literarischen Richtung zuordnen; denn während anderer Autoren oft nach Kontinuität streben und einen wiedererkennbaren Personalstil entwickeln, ist Bishop um vor allem Diversität und Reichhaltigkeit bemüht. Von Marianne Moores Dingbezogenheit oder Robert Lowells privaten Konfessionen bis zu Gerard Manley Hopkins, John Keats und John Donne reichen ihre Anspielungen, von älteren Formen wie der Villanelle bis zum modernen Radiosong »aus dem Mitternachtsärmel eines Zauberers«, von hingetupfter Ironie bis zur bitterernsten Totenklage. Das mag ein Stück weit auch in der Biographie der Dichterin begründet liegen.

Unbeständigkeit bestimmte Bishops Leben nämlich von Anbeginn. Ihr Vater verstarb, als sie erst acht Monate alt war, fünf Jahre später mußte ihre Mutter in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden, verschiedene Verwandte nahmen das Mädchen dann auf. Danach lebte Bishop unter anderem in Boston, Nova Scotia, New York, Key West, Mexiko, Frankreich und Brasilien, oft auf Reisen und ebenso oft die Wohnorte wechselnd – ein Umstand, der vielleicht unerwähnt bleiben könnte, wenn diese Unrast nicht eine gewisse Entsprechung im Durchmessen verschiedener formaler Gestaltungsweisen hätte. Die Gedichte entwerfen landscapes und dreamscapes, dabei auffallend häufig in Grenzbereichen angesiedelt, zwischen Land und Wasser, Stadt und Land, Luft und Meer oder in den unkartographierten Zonen von Wachsein und Traum, Wirklichkeit und Imagination, Realismus und Surrealismus. Diese Grenzen sind offen und ermöglichen einen Wechsel von der einen zur anderen Seite. So nehmen etwa Landschaften im Medium des Kartendrucks andere Qualitäten an als in der Realität vorgegeben (»The Map«), und ein Eisberg existiert allein durch die Vorstellungskraft, sogar schöner als der tatsächliche (»The Imaginary Iceberg«):

Das Lachen dieser weißen Gipfel
boxt mit der Sonne. Der Eisberg setzt sein eigenes Gewicht
auf schwankender Bühne und hält sich und blickt.

Die innere Bewegung des Gedichts beschränkt sich nicht auf Räumliches, sie wandert auch in zeitliche Dimensionen zurück. In einer persönlichen Kindheitserinnerung z.B. weitet sich durch ein ausliegendes National Geografic die bedrückende Enge beim Zahnarzt (»In the Waiting Room«); und qua dichterische Vorstellung kann eine Verständnisbrücke sogar noch zu dem Tag geschlagen werden, an dem der portugiesische Seefahrer Gaspar de Lemos eine Bucht auf den südamerikanischen Kontinent erreichte: »In Januaren empfängt die Natur unsere Augen / genauso, wie sie wohl ihre empfing.« (»Brazil, January 1, 1502«) Wenn Bishop in »One Art«, einem ihrer zu Recht wohl berühmtesten Gedichte, mit melancholischer Ironie die Kunst des Verlierens beschwört, dann bedient sie sich zur Illustration dessen nicht, wie man erwarten könnte, des freien Verses, sondern entdeckt in der strengen Reimform der Villanelle eine unerwartete Kontrafaktur. Nach ähnlichem Prinzip ist die grandiose Beschreibung eines durch das Halbbewußtsein wahrgenommenen Stadtmorgens nicht etwa zu unterschiedlich langen Zeilen zerfasert, sondern vielmehr mit strengen vierzeiligen Strophen gebändigt (»Love Lies Sleeping«):

Frühester Morgen, der alle Gleise umstellt,
die den Himmel von Schlacke- zu Schlackestern queren,
          die Enden der Straßen
          mit Lichtzügen gekoppelt [.]

Der Gegenstand bedingt auf die eine oder andere Weise die Form der Darstellung. Beschreibt Bishop beispielsweise Landschaften oder Stadtansichten, wirkt das Gedicht massig durch Langzeilen und weitgehenden Verzicht auf Stropheneinteilungen. Es scheint, als werde auf dem Papier eine Landkarte aus Wörtern ausgebreitet. Bei einem Text von eher narrativem Charakter sind die Zeilen dagegen kurz, als wollten sie die beschleunigte Handlung abbilden – »Ich fing einen enormen Fisch / und hielt ihn neben dem Boot / halb aus dem Wasser, mein Haken / fest in einem Winkel seines Mauls. / Er wehrte sich nicht.« (»The Fish«) – oder die beschriebene Bewegung nachvollziehen, wie in der mythologischen Erzählung vom Flußmenschen (»The Riverman«).  Während Bishop als Beraterin bei der Library of Congress arbeitete, besuchte sie mehrmals den im Hospital in Washington internierten Ezra Pound (»Visits to St. Elizabeths«). Zwar sind in dem Gedicht, das sich ohne namentliche Nennung auf Pound bezieht, die Zeilen relativ kurz, aber die repetitive Struktur, die ein bekanntes englisches Kinderlied aufgreift, verweist auf ein geradezu manisch um sich selbst kreisendes Geschehen, das nicht imstande ist, sich nach außen zu öffnen:

Das ist die Anstalt, Badlam.

Das ist der Mann
der sitzt in der Anstalt Badlam.

Das ist die Zeit
des tragischen Manns
der sitzt in der Anstalt Badlam.

Das ist eine Armbanduhr
die zeigt die Zeit
des redseligen Manns
der sitzt in der Anstalt Badlam.

Und ähnlich geht es noch einige Seiten lang weiter... So sind auf subtilste Weise Inhalt und Form miteinander verbunden. Die »Invitation to Miss Marianne Moore« imitiert nur auf den ersten Blick die visuelle Gestalt von Moores Gedichten, denn sie zeigt weder deren strenge Strophenform noch deren genau bemessene Silbenzahl. Der Titel »The Armadillo« (»Das Gürteltier«) spielt auf Moores »The Pangolin« an, doch der Text verweigert Moores massive Strophengestalt und die exakte, allegorischen Charakter annehmende Beschreibung, als habe sich Bishop von ihrer Freundin und Mentorin emanzipiert. »Wir treiben auf einem unbekannten Meer, ich denke, wir sollten darum das andere Treibgut auf unserm Weg sehr genau untersuchen«, schreibt Bishop einmal in einem Brief an ihren Kollegen Robert Lowell. Das trifft auf die Literatur ebenso zu wie auf die Szenerien, die sie gedanklich besucht und visuell absucht. Erreichen wollte Bishop damit »den seltsamen Effekt eines Gedichts, so normal wie Sehen zu sein und doch so synthetisch, so artifiziell wie ein Glasauge«. Das ist ihr in ihrer Dichtung tatsächlich unnachahmlich gelungen.

Bishops Dichtungen liegen auf Deutsch bis heute in keiner vollständigen Ausgabe vor. Leider ändert daran auch Steffen Popps wohlüberlegte, repräsentative Übersetzung nichts, denn sie umfaßt lediglich rund die Hälfte ihrer veröffentlichten Gedichte und nur wenige Nachlaßtexte (die übrigens keineswegs hier zum ersten Mal übertragen wurden, wie Popp vorschnell behauptet). Selbstverständlich ist manches für das Gesamtbild entbehrlich, anderes dagegen vermißt man durchaus, etwa »Anaphora«, »Sonnet« oder die grandiose Skizze »Florida Revisited«. Insgesamt trifft Popps Übersetzung den Tonfall sehr genau, dennoch stehen neben vielen guten, einfallsreichen Lösungen auch kleinere Ungenauigkeiten, Mißgriffe und unnötige Freiheiten. So wäre »Eine Kunst« ohne Probleme in eine konsequent gereimte Fassung (wie andernorts bereits publiziert) zu bringen gewesen; und die »wits« aus den oben – als nur ein Beispiel – zitierten Zeilen über den eher ›imaginären‹ als »traumhaften« Eisberg meinen nicht bloß den witzigen Einfall, sondern überhaupt die Klugheit und Intelligenz, die nicht brutal »boxt«, sondern mit der Sonne spielerisch zum Training ›sparrt‹ (»spar«). Aber natürlich dürfte es unmöglich sein, jedes Wortspiel und jede Doppeldeutigkeit hinüberzuretten, ein wohldosierter Mut an ein paar Stellen hätte jedoch nicht geschadet, so wie andererseits die Zurückhaltung hinsichtlich allzu heutiger Formulierungen. Das Buch ist mit seinen hilfreichen Anmerkungen und dem klugen Nachwort dennoch auf jeden Fall ein wichtiger Meilenstein für die deutschsprachige Bishop-Rezeption, aber vielleicht – hoffentlich – nicht das letzte Wort dazu.

Elizabeth Bishop
Gedichte
Zweisprachige Ausgabe, herausgegeben und übersetzt von Steffen Popp
Hanser Verlage
2018 · 352 Seiten · 32,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26014-6

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